torres hat geschrieben:Bruno hat geschrieben:
@torres:
Du stellst Kindheit - in ihrer wesenhaften Existenz im Unterschied zum Erwachsenen - scheinbar genauso in Abrede, aber dich frage ich hier nicht, da du dich ja nicht explizit als Pädo/GL bezeichnest.
(Kannst natürlich trotzdem gerne auch antworten.
)
Bevor ich dazu irgendwas sagen kann, wäre es gut, wenn du mir erklärst, was du unter "wesenhafte Existenz" verstehst. Mir fallen zu dem Stichwort eigentlich nur billige B-Horrorfilme ein.
Nur weil du dir schlechte Filme anschaust, muss ich jetzt alle Trivialitäten erklären...
Nein, aber im Ernst, was ich damit meine ist doch klar: Ich habe, so wie manche andere hier im Thread, ein Eigenschaften- bzw. Eigenheitenkonglomerat genannt, durch das ich (echtes) Kind-Sein - heute immer noch - gekennzeichnet sehe, und du hast im Gegenzug recht deutlich zu verstehen gegeben, dass du der Meinung bist, es gäbe offenbar gar keine "typisch kindlichen" Eigenschaften bzw. Eigenheiten.
Ich bin der letzte, der die Individualität und Einzigartigkeit des Menschen in Abrede stellen und den Menschen in seinem Mensch-Sein durch die Zugehörigkeit zu normiert gedachten sozialen Gruppen determiniert sehen will. Aber es gibt und gab die
"Idee Kind", die ein bestimmtes (gedachtes) Eigenschaften- und Eigenheitenkonglomerat impliziert.
Ich habe - da ich mich mit Kindheitsgeschichte beschäftigt habe - in meinem Eingangsposting zum Thread
"Ist Kindheit durch Asexualität definiert?" versucht zu zeigen, dass "Kindheit" als eigenständige Lebensphase des Menschen mit einer spezifischen Lebenswelt keinesfalls zu allen Zeiten gleichermaßen existiert hat, sondern vielmehr mit der Etablierung und Verbreitung der bürgerlichen Familie etwa ab dem 18. Jh. in engem Zusammenhang steht.
Im 18. Jh. haben auch Pädagogen wie J.J.Rousseau erstmals die
Eigenständigkeit der Lebensphase "Kindheit" und ihre Unvergleichbarkeit mit dem Erwachsenenleben dargestellt: Während der erwachsene Mensch dem Kind etwa in seinen staatsbürgerlichen Denk- und Handlungsformen klar überlegen ist, so ist das Kind laut Rousseau dem erwachsenen Menschen im Gegenzug darin überlegen, dass bei ihm
noch nicht die Vernunft über das authentisch-gefühlsmäßige Erleben dominiert und es daher noch in natürlicher Einheit mit sich selbst lebt. Rousseau tritt daher im scharfen Gegensatz zu Aufklärungspädagogen wie John Locke für eine "negative Erziehung" ein, die das Kind von schädigenden gesellschaftlichen Einflüssen fernhalten und ihm eine freie
Entfaltung seiner innenbürtigen Anlagen ermöglichen soll. Die Rousseausche Pädagogik hatte freilich eine enorme Auswirkung auf die gesamte nachfolgende Pädagogik - auch etwa die Reformpädagogik im 20. Jh. (M. Montessori, R. Steiner u.a.) steht ganz in diesem Zeichen - bis heute und wäre ohne die Vorstellung einer
"Idee Kind" bzw.
"Kindheit" nicht denkbar.
Da der erwachsene Mensch droht, u.a. durch abgespaltenen Intellekt die
natürliche Einheit mit sich selbst zu verlieren, sprachen die deutschen Klassiker und Romantiker - auf das Rousseausche Kinderbild bezugnehmend -, dass der Mensch sich in Richtung einer
zweiten, höheren Kindheit entwickeln muss, um diese verlorene Ganzheit wiederherzustellen. (Der Weg führt über die künstlerische Betätigung und der Vergegenwärtigung des Kindes bzw. der "Idee Kind" als Vorbild.)
Im viktorianischen Zeitalter stand die "Idee Kind" - und insbesondere das sie besonders stark repräsentierende kleine Mädchen - neben einer
verlorenen individuellen und kollektiven (vorindustriellen) Vergangenheit auch für die viktorianische Häuslichkeit, die dem von der harten Arbeit in der Außenwelt heimkehrenden Mann seelische Rekreation ermöglicht. Wir finden diese Zusammenhänge vielfach z.B. in den berühmten Romanen von Charles Dickens, in denen - wenngleich für Erwachsene geschrieben - durchwegs Kinderfiguren eine entscheidende Rolle spielen.
(Vgl. dazu etwa:
Catherine Robson: Lost Girlhood of the Victorian Gentlemen)
Robson zeigt durch ihre Ausführungen übrigens auch - ohne das so explizit auszusprechen - sehr deutlich, dass die "Pädophilie" des
"Urahns aller Pädophilen", Lewis Carroll, ohne den oben dargestellten Kontext nicht denkbar ist.
Jenseits aller etwaigen Sentimentalitäten war die "Idee Kind" bzw. die Vorstellung einer "kindlichen Natur" auch ein ganz entscheidender Bestandteil in den letztendlich erfolgreichen
politischen Argumentationen gegen die industrielle Kinderarbeit, die von den Philanthropen als "wider die kindliche Natur" angeprangert wurde.
Wir sehen aus diesen knappen Darstellungen, dass die "Idee Kind" eine sozial- und kulturgeschichtlich sehr wirkmächtige gewesen ist. Und ich bin sicher, wir brauchen sie immer noch. Gerade weil sie heute mitunter zu verblassen droht.