"Alice in den Städten" ist ein Film von Wim Wenders aus dem Jahr 1973. Der Streifen hat - insbesondere für GLs - mit der entzückenden 9-jährigen Yella Rottländer einerseits freilich einen ausgesprochen hohen Schauwert, ist darüber hinaus wohl aber auch aufgrund seiner ausführlichen Thematisierung der Beziehung eines erwachsenen Mannes zu einem ihm fremden kleinen Mädchen von besonderem Interesse.
Wer den Film und seinen Inhalt nicht kennt, den kann ich dankenswerterweise auf die Filmliste des GLF verweisen (http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... 263#p36263), sodass ich mir hier eine Inhaltsangabe (und entsprechende Bildimpressionen) sparen kann. Mir geht es hier vielmehr um die Herausarbeitung von meiner Meinung nach signifikanten Bezügen zu anderen (GL-)"Klassikern", die sich mir während der Filmansicht und -reflexion aufgedrängt haben.
Zum einen besteht natürlich der Bezug zu Lewis Carroll, nicht nur im Namen des Mädchens "Alice", sondern auch durch die offensichtliche Hemmung der (sprachlich-kommunikativen) "Realitätserfassung" des Protagonisten, die sich u.a. in seiner Fotografier-Manie äußert und eine gesellschaftliche Außenseiterrolle bedingt. Zum anderen besteht nicht zuletzt durch das Roadmovie-Element ein deutlicher Bezug zur modern-pervertierten Alice-Figur "Lolita".
Interessant ist aber nun vor allem, dass sich das Lolita-Motiv im inhaltlichen Kern in "Alice in den Städten" vielfach nahezu ins Gegenteil gespiegelt wieder findet. Es fängt schon damit an, dass Nabokovs "moderne" Lolita-Geschichte in der Neuen Welt spielt, während Wim Wenders "postmoderne" Geschichte in der Alten Welt (die durch Rückkehr erreicht wird) beheimatet ist. Humbert verbringt seine Auto-Odyssee mit einem jugendlichen, pubertären Mädchen, das er sexuell begehrt und gezielt zu seinem Besitz gemacht hat. Wim Wenders Protagonist Philipp Winter verbringt seine Auto-Odyssee hingegen mit einem fremden kindlichen kleinen Mädchen, zu dem er eine menschliche Beziehung aufbaut, nachdem er unbeabsichtigt dessen einzige Bezugsperson geworden ist. Humbert flüchtet mit Lolita vor der Polizei, sie verlässt ihn aber, als sich eine Gelegenheit bietet, um sich aus seinen Zwängen zu befreien. Winter sucht mit Alice die Polizei auf, um sie in deren Obhut zu übergeben, Alice kehrt aber von selbst zu Winter zurück. Humbert erlebt durch den Kontakt mit Lolita seinen menschlichen Nieder- und Untergang, während Winter durch den Kontakt mit Alice eine menschliche Reifung erfährt. Der kriminell gewordene Humbert stirbt im Gefängnis, während der "sprachgehemmte" Winter am Ende der Geschichte - so die Andeutung - nun die realistische Vision hat, seine eigene "Geschichte" als kommunikative Basis mit der Außenwelt formulieren zu können.
Die modern-pervertierte Alice-Figur "Lolita" kehrt durch "Postmodernisierung" auf anderen Wegen quasi wieder zu ihrem Ursprung zurück: zu der "klassisch-romantisch" fundierten Alice-Figur Lewis Carrolls.
Ist es einigermaßen nachvollziehbar, was ich meine? Wer kennt den Film und hat Lust, dazu etwas zu sagen? Oder wer kennt ihn nicht und hat trotzdem Lust?
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