Gast hat geschrieben:
(Authentischer) Glaube und Religiosität sind in erster Linie [...] eine Sache der individuellen Überzeugung [...]
Diese entscheidende authentisch-individuelle Ebene von Glaube und Religiosität [...]
Jear! Super, jetzt ist Religion ein Ausdruck von Individualismus!
Gut, OK. Ich wähle also eine Religion, das ist eine sehr individuelle Entscheidung.
Mal sehen, was gibt es denn da - christlich, buddhistisch, islamisch etc. Hm ... ich entscheide mich mal spontan für das Christliche, liegt ja näher in diesem Kulturkreis. Boa, ich habe mir eine Religion ausgesucht und fühle spontan, wie mich der Individualismus durchflutet! Die Macht ist mit mir!
...
Morgen früh werde ich mir dann mal ansehen, was ich da eigentlich gewählt habe.
Ich werde feststellen, daß es eine Heilige Schrift gibt, die die Lehren des Glaubens verkündet. Für alle Lücken oder Zweifelsfragen gibt es einen Menschen, der die Auslegung oder Fortschreibung der Lehre verkündet. Verbindlich.
Sozusagen eine Einheitsleere ... äh Einheitslehre. "Das ist jetzt aber weniger individuell für mich gestaltet," werde ich leise bemängeln.
Doch optimistisch starte ich mit meiner neuen Religion in den Tag, soll ja Kraft und Freude bringen, so eine Religion.
Ich werde rausgehen in die Welt und feststellen, daß Millionen von Menschen dieser meiner religiösen Einheitslehre angehören. "Naja schade," werde ich mir denken, "da haben wir ja alle die gleiche Religion gewählt. Welche individuelle Rolle kann meine Religionswahl dann in dieser Masse noch spielen," werde ich mich fragen.
Doch auch diese Zweifel werde ich beiseite wischen, schließlich soll mein Glaube ja stark sein, dieser tolle Ausdruck meiner Individualität.
Deshalb werde ich sofort einen dieser Tempel meiner ganz persönlichen Religion aufsuchen, um dort meinen Glauben zu zelebrieren.
Ich werde die eindrucksvolle Kathedrale betreten und erst mal ganz eingeschüchtert von dieser gewaltigen Kulisse sein, geblendet vom Gold und Prunk. "Ja, da habe ich mir das Richtige ausgesucht!"
Doch was ist das? Hundert einfältige Menschen werden mit mir auf den Kirchenbänken sitzen. "Keine persönliche Loge wie im FC Bayern Stadion? Na ja, ruhig, erstmal sehen, wie die Messe wird," werde ich meinen Blutdruck zu senken versuchen.
Zusammen werden wir aufstehen und Lieder singen; synchron werden wir Verse aus der Einheitslehre sprechen und die Hände falten. Ich selbst werde während dieser religiösen Feierlichkeit eigentlich nichts besonderes tun brauchen - ich schwimme einfach mit der Masse mit.
Das wird mich dann weniger an eine individuelle Veranstaltung als eher an ein perfekt abgestimmtes Kollektiv erinnern.
"Aber, aber," werde ich mir Mut machen, "so schlimm wie das Borg-Kollektiv ist es nun auch wieder nicht. Geben wir dem Priester mal eine Chance."
Der Priester wird auf einer Kanzel stehen und mir sagen, daß ich gesündigt habe und mir etwas von meinen Schuldnern erzählen. "Wie kann der so eine pauschale Verallgemeinerung in dieser große Masse von Menschen posaunen; schließlich ist die Frage ob wir gesündigt oder Schulden haben eine sehr individuelle," werde ich mit langsam anschwellendem Zorne denken.
"Doch mein letztes Urteil soll bis zum Ende seiner Predigt warten," werde ich mich gedanklich zurückhalten. Ich werde lauschen ...
Der Priester schließlich wird aus der Einheitslehre zitieren: "Liebe deinen Nächsten!"
Wie mir geheißen, so werde ich meinen Kopf zu der mir nächsten Person umdrehen - eine
erwachsene Frau.

Das wird mir den Rest geben ... "spinnt denn der jetzt?"
Ich werde den Kollektiv-Tempel verlassen und meine Individualität woanders suchen.