nun ist es doch passiert!

Und ich, ich ganz allein bin schuld daran!
Es ist so schlimm. Schlimmer als ihr es euch vorstellen könnt!
Vergesst alles, was ihr über den gestrigen Weltuntergang gelesen habt. Die Wirklichkeit ist noch schlimmer, sie übertrifft meine schrecklichsten Alpträume.
Die Welt ist untergegangen. Gestern. Ja, ich selbst habe es getan, aber nur versehentlich.
Es war gut gemeint.
Wirklich!
Aber von vorne: Als ich gestern Abend in der europäischen Zweigstelle des renommierten Ichiseki-Institutes von Kyōtō ein Experiment zur Nichtkausalität quantenphysikalischer Vorgänge durchführte, hatte ich keine Ahnung, was dadurch passieren würde. Ich drückte auf den Knopf, der Krypton-Laser sprang an und - puff - ein kurzer Ruck ging durch den Tisch, auf dem das Expeeriment aufgebaut war. Auch durch den Boden und das ganze Institutsgebäude. Durch die ganze Welt. Mit Lichtgeschwindigkeit breitete sich die gaze Katastrophe durch das Universum aus und wird sich ausbreiten bis in alle Ewigkeit: Das makroskopische Kausalitätsparadoxon, das ich in der Vorlesung am nächsten Tag vorstellen wollte. Eigentlich ging es nur um die Messung eines Elektronenspins, der durch spukhafte Fernwirkung in die Vergangenheit sich umkehrte, aber es passierte mehr - viel mehr!

Wie ist das passiert? Um nichts kaputt zu machen, wollte ich die Fernwirkung in ein ganz unbedeutendes System in der Vergangenheit teleportieren, nämlich in ein Zuckermolekül in einem Haus in Berlin, das noch heute steht.
Ich besitze nämlich ein uraltes, genau datiertes Foto von 1878, in dem meine Ururgroßtante an einem Kaffeetisch sitzt. Mein Opa hatte über das Foto vor vielen Jahren erzählt, dass sein Großvater es aufgenommen und später darüber berichtet hatte, dass er die klobige Plattenkamera in Ermangelung eines Stativs auf den Kaminsims befestigt hatte.
Ich habe das Haus später noch betreten um das Zimmer zu sehen und konnte daher mit fotogrammetrischen Methoden die Position eines kleinen schwarzen Punktes auf der Zuckerdose auf dem Tisch, vielleicht ein Insekt, millimetergenau bestimmen. Mit dem Foto wollte ich dann feststellen, ob es mir gelungen war, die Teleportation eines Elektronenspins in die Vergangenheit, nämlich in diese Zuckerdose, durchzuführen, denn wenn es gelänge, so dachte ich, würde das leise Knacken in einem Zuckerkristall das eine Stunde später aufgenommene Foto in Einzelheiten verändern, z.B. könnte es das Insekt verjagt haben.
Und wie erfreut war ich, als der Punkt auf dem alten Foto verschwunden war. Und nicht nur das: Auch der Faltenwurf des Gewandes meiner uralten Verwandten hatte sich verändert. Nur beweisen konnte ich es nicht, weil alle davon existierenden Kopien sich rückwirkend ebenfalls verändert hatten.
Das Experiment war ein voller Erfolg. Ich riss das Fenster auf, um einen Jubelschrei in den finsteren Dezemberhimmel zu senden, doch keine beißend frostige Luft umwehte mich, sondern ein pisswarmer Regen! Dann war der ganze Himmel gelb erleuchtet von Straßenlampen. Daraußen herrschte ein infernalischer Lärm von Maschinen und Autos und das gegenüberliegende Gebäude war verschwunden.
Entsetzt griff ich meinen Mantel um hinauszurennen und nachzusehen, aber der war nicht mehr da! Auch der Lichtschalter war an einem anderen Platz und hinter der Tür war eine gammelige verstaubte aber sonst völlig leere Fläche. Das renommierte Ichiseki-Institut in Europa existierte nicht mehr, statt dessen war ich in einem verkommenn Altbau, der keine Funktion mehr hatte, außer ein paar Gammlern Unterkunft zu bieten, wie ich feststellen musste, als ich auf die Straße rannte und über einen solchen stolperte.
Überall darußen war es laut und grell von künstlicher Beleuchtung. Die Straßen schienen mit einem mir fremden Reichtum sinnlos zu protzen, und alles war so voll und wimmelig. Es gab keinen ruhigen Ort in der Stadt. Manches erschien mir bekannt, aber das meiste war völlig neu und fremd. Aber ich war noch in derselben Stadt!
Wie war das möglich? Ich hatte mit diesem Knistern in einem Zuckerkristall vor 134 Jahren die ganze Geschichte verändert!
Leute, ihr alle existiert gar nicht! Eure Welt ist die falsche, aber meine, die nun nicht mehr existiert, ist die richtige. Ihr könnt das nicht wissen, weil ihr meint, schon immer dagewesen zu sein, aber das stimmt nicht. Erst gestern Abend habt ihr zu existieren angefangen, als ich das Experiment machte, und alle eure Erinnerungen sind durch die falsche Kausalität hervorgerufen, aber nicht real. Ich habe versehentlich die Welt durch eine Alternativwelt ersetzt. Nur noch ich bin real und aus der Geschichte, wie sie wirklich verlief, hervorgegangen!
Tut mir Leid, Euch das mitteilen zu müssen. Ich hoffe, ihr kommt irgendwann darüber hinweg, dass ihr eigentlich gar nicht existiert. Aber ich als Urheber dieser Katastrophe bin Euch diese Nachricht schuldig.
Die Leute daraußen sprechen alle etwas anders. Sie haben anderes Geld oder auch gar keins, sie tun alle so freundlich aber meinen es nicht. Ich wurde nach Mitternacht durchnässt und verstört in eine Obdachlosenunterkunft gebracht. Es gibt dort einen Computer, aber der ist anders als die die ich kannte und kommt aus Amerika. Das Betriebssystem benutzt ungebräuchliche englische Wörter und kein Japanisch. Dabei wurden die ersten internetfähigen Rechner in Japan konstruiert, aber dieses Ding hier tut so englisch. Das ist doof.
Immerhin kann ich hier kurz ins Internet, wo auch alles auf englisch ist und wo fast nichts wiederzuerkennen ist. Nur das GLF ist noch da. Das GLF scheint also eine der wenigen kausalitätsinvarianten Konstanten der Geschichte zu sein. Sogar ich war schon mal hier, sehe ich, aber in dieser Welt und nicht in meiner.
Hinter mir steht ein betrunkener und drängelt, weil er Pornos sehen will. Ich muss micht jetzt ausloggen. Im Obdachlosenasyl muss man sich die Rechnerzeit teilen.
In den nächsten Tagen forsche ich nach, was sich an der Geschichte verändert hat. Es scheint leider sehr viel zu sein. Nur noch ich bin echt und alles andere ist in der falschen Zeitlinie gelandet.

Danke für Eure Geduld - und nehmt mir bitte nicht übel, dass ihr eigentlich gar nicht existiert.
Shōjo no Kamisama
少女 の 神様