Dass das (neuzeitliche) traditionelle inhaltliche Fundament des Girllove zu einem wesentlichen Teil im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in den idealistisch orientierten bürgerlichen Kreisen der "Romantiker" zu suchen ist, ist wohl kaum eine neue Erkenntnis. (Und das nicht nur, weil wir gleich an Novalis als den "Klassiker" unter den Romantikern denken.) Interessanter könnte die Sache werden, wenn in Analogie dazu das (neuzeitliche) Fundament des Boylove verortet werden soll. Denn bei den idealistischen Romantikern, die Kindheit per se stark weiblich konnotierten, ist letzteres wohl kaum zu finden.
Anders stellt sich die Sache aber fast ein Jahrhundert nach dem Einsetzen der bürgerlich-idealistischen Phase, im ausgehenden 19. Jahrhundert, dar. Das idealistische Konzept der Romantiker musste nun - in einer stark veränderten Gesellschaft - bekanntlich zu einem guten Teil anderen Welt- und Lebensentwürfen weichen, die sich u.a. durch Schlagworte wie "Materialismus", "Hedonismus", "Dekadenz" begrifflich einkreisen lassen. Dass sich just in diesem Milieu eine Sehnsucht nach "ewiger Jugend" zum literarisch-philosophischen Thema entwickelte, kann wohl kaum als Zufall angesehen werden. Oscar Wildes Dorian Gray, der sich in sein eigenes - ewig junges - Portrait verliebt (und schließlich Rollen tauscht und das Portrait an seiner Stelle altern lässt), und James Barries Peter Pan, der Junge, der nicht erwachsen werden will, sind nur zwei berühmte einschlägige Beispiele. Oscar Wildes Homosexualität und James Barries postulierte Affinität zur Boylover-Persönlichkeit sind hinlänglich bekannt.
Immerhin haben die beiden genannten Titelhelden sogar Eingang in die Wissenschaft gefunden: in Gestalt des "Dorian-Gray-Syndroms" und des "Peter-Pan-Syndroms", die beide durch Narzissmus, Sexismus, Verantwortungslosigkeit, Unfähigkeit zu tiefer Liebe und daraus resultierender Einsamkeit gekennzeichnet sind.
Catherine Robson konstatiert in ihrem Buch "Men in Wonderland" [*] die brisante Tatsache, dass die Idee "Kind" von einer dominant weiblichen Konnotation im 19. Jahrhundert gegen die Wende zum 20.Jahrhundert hin von einer männlichen Konnotation abgelöst wird. Robson führt dazu mehrere Beispiele aus der Literatur an (neben den erwähnten Werken etwa Stevensons Treasure Island oder Kiplings Jungle Book), aber auch etwa Baden-Powells Pfadfinderbewegung (Baden-Powell ist als Boylover-Persönlichkeit bekannt!) und schließlich Sigmund Freud, in dessen wissenschaftlichen Abhandlungen freilich auch stets der Knabe die Idee "Kind" repräsentiert.
Mit der Verschiebung der Idee "Kind" von einer weiblichen hin zu einer männlichen Konnotation gingen andere Verschiebungen einher: Die Verschiebung von der Kindheit hin zur Jugend als neuem kulturellen Bezugspunkt (Jugend als "neu" entstandene und - im Gegensatz zur traditionell weiblich konnotierten Kindheit - männlich konnotierte Lebensphase) und, damit in Verbindung stehend, die Verschiebung vom einst "asexuellen" Kind hin zum (implizit oder explizit) sexuellen Kind.
Durch die genannten Verschiebungen findet die "moderne" Beziehung zum Kind ihren dekadent-hedonistischen bzw. "materialistischen" Bezug, ihre "Verjugendlichung" und ihre (dominant) sexuelle Konnotation bzw. tatsächliche sexuelle Komponente. Um wie vieles unterscheidet sich etwa der Zugang des "modernen" Girllovers Peter Altenberg zum Mädchen von jenem eines Lewis Carroll! Und wo sich der moderne "Klassiker" eines Girllovers, Nabokovs Humbert Humbert, einreihen lässt, braucht hier wohl kaum näher erörtert werden.
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[*] Robson, Catherine: Men in Wonderland. The lost Girlhood of the Victorian Gentleman. Princeton N.J. 2001
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Re: Girllove versus Boylove / Idealismus versus Dekadenz?
hi Bruno
Weder noch. Boylove kann idealistisch sein; die antiken Ideen von 'Erziehung' demonstrieren es, und die glühenden Laudatio im JF: deren inniges, emotionales Einfühlungsvermögen, ihr Verständnis für Probleme der Jungs, ihre Empfindsamkeit. Boylove kann dekadent sein, wie Tiberius uns gelehrt hat, welcher seine "Fischlein" hernach die Klippen runterstürzen ließ. Oder das 'Jungs-Bordell' das letztes Jahr im Berlin ausgehoben wurde.
Dass den Jungs in der Kindheit eine ideell weibliche Konnotation verliehen wurde, oder umgekehrt den Mädchen, hat für mich vieleicht insoweit eine Bedeutung wie sie untereinander in ihren Interessen und ihrer Sexualität beeinflusst/gestört werden. Die entscheidende Auswirkung liegt für mich in der unwiderruflichen Festlegung. Ob männliches oder weibliches Gender - diese Weichenstellung sollte nach unserer sexual-ethischen Verfassung in frühster Kindheit fallen; boy or girl. Etwas später dann die Festlegung der sexuellen Orientierung; hetereo or homo. Das ist gesellschaftlich eine höchst brisante und doch zutiefst intime Angelegenheit. Der Knackpunkt für mich ist die unwiderrufliche verbindliche sexuelle und soziale Indentifiziereng. Begleitet von der tradierten charakterlichen Konnotation - doch was ist auszusetzen an einem jungen Mädchen, das weiß was sie will, sexuell initiativ ist und sich durch erotisch bestechende Art zu ihrer Lust verhelfen vermag, sodass selbst Girllover entwaffnet sind. Solche Menschen stellen uns auf die Probe
Weder noch. Boylove kann idealistisch sein; die antiken Ideen von 'Erziehung' demonstrieren es, und die glühenden Laudatio im JF: deren inniges, emotionales Einfühlungsvermögen, ihr Verständnis für Probleme der Jungs, ihre Empfindsamkeit. Boylove kann dekadent sein, wie Tiberius uns gelehrt hat, welcher seine "Fischlein" hernach die Klippen runterstürzen ließ. Oder das 'Jungs-Bordell' das letztes Jahr im Berlin ausgehoben wurde.
Dass den Jungs in der Kindheit eine ideell weibliche Konnotation verliehen wurde, oder umgekehrt den Mädchen, hat für mich vieleicht insoweit eine Bedeutung wie sie untereinander in ihren Interessen und ihrer Sexualität beeinflusst/gestört werden. Die entscheidende Auswirkung liegt für mich in der unwiderruflichen Festlegung. Ob männliches oder weibliches Gender - diese Weichenstellung sollte nach unserer sexual-ethischen Verfassung in frühster Kindheit fallen; boy or girl. Etwas später dann die Festlegung der sexuellen Orientierung; hetereo or homo. Das ist gesellschaftlich eine höchst brisante und doch zutiefst intime Angelegenheit. Der Knackpunkt für mich ist die unwiderrufliche verbindliche sexuelle und soziale Indentifiziereng. Begleitet von der tradierten charakterlichen Konnotation - doch was ist auszusetzen an einem jungen Mädchen, das weiß was sie will, sexuell initiativ ist und sich durch erotisch bestechende Art zu ihrer Lust verhelfen vermag, sodass selbst Girllover entwaffnet sind. Solche Menschen stellen uns auf die Probe
Dumm fickt gut. Noch Fragen ??
- Bruno
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Re: Girllove versus Boylove / Idealismus versus Dekadenz?
Ich habe mich in meiner Darstellung bewusst ausschließlich auf die neuzeitliche Entwicklung bezogen und die antike Päderastie nicht berücksichtigt. Denn die päderastischen Beziehungen in der Antike waren ja an einen ganz bestimmten kulturellen Kontext und damit an bestimmte Funktionen (individuelles Lehrer-Schüler-Verhältnis) gebunden.Annika hat geschrieben:Boylove kann idealistisch sein; die antiken Ideen von 'Erziehung' demonstrieren es
In der europäischen Neuzeit ist ein solcher kultureller Kontext nicht zu finden. Es ist daher meiner Überzeugung nach unsinnig, das unter völlig anderen kulturellen Voraussetzungen sich etablierende neuzeitliche Boylove als Fortschreibung oder Revival der antiken Päderastie zu sehen. Inhaltliche Parallelisierungen und konkrete Vergleiche zwischen antiker Päderastie und neuzeitlichem Boylove sind - wenngleich des öfteren gemacht - meiner Meinung nach daher ebenso unzulässig.
- Annika
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Re: Girllove versus Boylove / Idealismus versus Dekadenz?
Du schreibst schon wie ein Jurist. Was denkst Du im übrigen von meinem Text ?Bruno hat geschrieben:Annika hat geschrieben:Inhaltliche Parallelisierungen und konkrete Vergleiche zwischen antiker Päderastie und neuzeitlichem Boylove sind - wenngleich des öfteren gemacht - meiner Meinung nach daher ebenso unzulässig.
Dumm fickt gut. Noch Fragen ??