"Paradox und vor allem bigott"
Seit Monaten werden immer neue Fälle von Kindesmissbrauch bekannt. Doch diese sind noch längst nicht alles, sagt der Sexualpsychologe Christoph Joseph Ahlers. Ahlers fordert eine bessere Prävention für potenzielle Täter. Auch müsse das Thema offensiv bei der Besetzung sämtlicher Stellen zur Sprache gebracht werden. "Wir wissen, es gibt Pädophilie als Sexualpräferenz". Dennoch fehle es an Leuten, die das sachverständig handhaben könnten. "Kein Facharzt oder Fachtherapeut lernt die Diagnostik und Behandlung sexueller Störungen." Versorgungstechnisch lebe ein Pädophiler, der in Deutschland Hilfe suche, in Afrika. Ahlers kritisiert es zudem als "paradox und vor allem bigott", dass es zwar einen Runden Tisch gegen Kindesmissbrauch gebe, andererseits aber Gelder und Projekte für die Ausbildung fehlten.
http://www.n-tv.de/politik/dossier/Para ... 29176.html
n-tv.de: Seit März ist die Bundesbeauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Christine Bergmann, im Amt. Bisher haben sich mehr als 1000 Opfer an sie gewandt. Überrascht Sie diese Zahl?
Christoph Joseph Ahlers: Nein, das ist nur die Spitze des Eisberges. Wir wissen seit Jahren aus repräsentativen Dunkelfelderhebungen, dass über acht Prozent der Mädchen und knapp drei Prozent aller Jungen in ihrer Kindheit und Jugend Opfer sexueller Gewalt mit Körperkontakt werden. Das Problem ist erheblich größer, als die Fälle, die jetzt bekannt werden. Jeden, der beruflich mit diesem Problem befasst ist, können diese Zahlen in keiner Weise überraschen.
In zwei Drittel der Fälle, die der Bundesbeauftragten berichtet wurden, fand der Missbrauch in Institutionen statt. Müssen wir die Annahme vom Haupttatort Familie in Frage stellen?
Nein, dazu haben wir keine Veranlassung. Der Umstand, dass jetzt Opfer vor allem über die Fälle aus Institutionen berichten, hat damit zu tun, dass der institutionelle Hintergrund benennbar wird. Aber die Familie lässt sich eben gesellschaftlich nicht so handhaben wie beispielsweise reformpädagogische oder kirchliche Einrichtungen, wo über eine hierarchische Organisationsstruktur Anweisungen zum Umgang mit Missbrauch gegeben werden können. Diese Anweisungen gab es früher zur Verdeckung, und jetzt gibt es erste Anzeichen dafür, dass diese Strukturen zur Aufklärung genutzt werden können. Deswegen kommen jetzt Missbrauchsfälle aus Institutionen eher zur Sprache, aber Schwerpunkt bleibt der soziale Nahraum von Kindern.
Ist Nahraum von Kindern also das verbindende Element beim Missbrauch in der Familie oder im Internat oder in der kirchlichen Kindergruppe?
Das ist die Kernvariable dieses Übergriffgeschehens, die in den bisherigen Präventionsbemühungen vielleicht zu wenig berücksichtigt wurde, nämlich die Beziehungsqualität zwischen Täter und Opfer. Bisher gab es pädagogische Prävention für die potenziellen Opfer. Das sind Konzepte für Schulen, Lehrer, Erzieher oder auch Eltern, wo z. B. Polizisten in die Schulen kommen, Theaterstücke aufgeführt werden und dergleichen. Da wird Kindern sexuelle Selbstbestimmung beigebracht, dass sie nein sagen dürfen und gute und schlechte Berührungen unterscheiden lernen. Das findet seit vielen Jahren mit großem Erfolg statt. Aber all das berücksichtigt zu wenig die hochspezifische Täter-Opfer-Beziehung. Hier liegt der eigentliche Schlüssel, warum das Problem präventiv so schwer zu fassen ist.
Wie sieht diese Täter-Opfer-Beziehung aus?
In aller Regel befinden sich die Kinder mit dem Täter in einer emotionalen und sozialen nahen Beziehung. Beim Vater, Bruder, Lehrer, Pfarrer oder Trainer kommen Zuwendung und Übergriff aus einer Hand. Das stiftet eine emotionale Konfliktsituation, einen Ambiguitätskonflikt. Das Kind kann dieses Gut und Böse von ein und demselben Menschen nicht integrieren. Es ist emotional überfordert und das führt zu diesen vielschichtigen psychischen Reaktionen aus Schuld, Scham, Verlegenheit, Leid und Schmerz. Das macht stumm. Darum ist das Sprechen über das Erlittene so schwer. Diese besondere Beziehungsqualität kam bisher in der pädagogischen Prävention für potenzielle Opfer zu wenig vor.
Welche sonstigen Präventionsmöglichkeiten wären sinnvoll?
Es gibt seit einigen Jahren die Bemühungen, eine therapeutische Prävention für potenzielle Täter aufzubauen. Das gab es bis zum Ende de 20. Jahrhunderts nicht. Der Versuch läuft mit dem "Präventionsprojekt Dunkelfeld" an der Berliner Charité. Hier sollen Männer erreicht werden, die sexuelle Impulse bezogen auf Kinder verspüren, bevor sie Täter werden, indem man sie entstigmatisiert, nicht verurteilt für ihr Sosein. Stattdessen bietet man ihnen vorbeugende therapeutische Hilfe an, um es erst gar nicht zu Taten kommen zu lassen. Sie werden für ihr Verhalten in die Verantwortung genommen, nicht aber für ihre Neigung verurteilt.
Das setzt aber bei den Betroffenen ein Problembewusstsein voraus.
Das ist richtig.
Aber das fehlt vielen wahrscheinlich.
Vielen fehlt das, aber das ist nicht der einzige Hemmschuh. Viel schwieriger ist, dass jemand, der diese sexuelle Ansprechbarkeit durch vorpubertäre Kinderkörper empfindet, in unserer gesellschaftlichen Bewertung lernt, dass er ein "perverses Schwein" ist. Das lernt er unabhängig davon, ob er irgendwelche Handlungen unternimmt oder nicht. Hier müsste es gelingen, eine differenziertere Betrachtung in das gesellschaftliche Wertebild zu integrieren. Nicht die Impulse, die Gedanken oder die Ansprechbarkeit sind der Makel, sondern die Tat. Unsere Rechtsordnung hat das längst erkannt und berücksichtigt. Sexualstraftaten sind nicht Neigungen oder Gefühle, sondern Handlungen, sprich Übergriffe. Wenn sich diese Umgangsweise unseres Rechtssystems in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein niederschlagen würden, könnte sich jemand, der merkt, er ist pädophil, untersuchen und beraten lassen. Er könnte seine Neigung als Teil seiner Ausstattung von Mutter Natur annehmen und sich im Idealfall anonym, kostenlos und schweigepflichtgeschützt an eine entsprechend qualifizierte Institution wenden.
Wie könnte das aussehen?
Ich stelle mir das analog zur HIV-Prävention in den 1990er Jahren vor. Da gab es in jedem Gesundheitsamt in jeder Kreisstadt eine Anlaufstelle, wo man sich anonym, kostenlos und schweigepflichtgeschützt testen und beraten lassen konnte. Das ging nur, weil es gelungen war, HIV-Infizierte zu entstigmatisieren. Aus "perversen Schweinen", die sich bei sündhaftem Treiben angesteckt haben, wurden Kranke, Patienten. Nur deshalb konnte die Präventionsarbeit hocheffektiv greifen. Aber noch stecken wir bei pädophilen Menschen im Stigmatisierungsprozess.
Ist das nicht nachvollziehbar?
Ja, das ist es. Die Taten, die geschehen sind, sind ungeheuerlich und abscheulich. Sie erwecken in uns allen die maximale Abwehr und den Impuls, die Täter zu verurteilen. Das sind aber die, die die Taten bereits begangen haben. Wenn sich der Gedanke auf die Prävention richtet, gilt es, die Taten zu verhindern. Deshalb muss man potenzielle Täter vorher ansprechen: Schütze andere und dich selbst, indem du nicht zum Täter wirst! Dann wären wir einen Schritt weiter.
Das würde einen totalen Paradigmenwechsel bedeuten.
So wie bei der Homosexualität. Solche gesellschaftlichen Paradigmenwechsel können gelingen, aber sie brauchen Zeit. Wir stehen gerade erst am Anfang. Dabei geht es nicht darum, pädosexuelle Handlungen zu legitimieren. Sondern es geht darum, die Unterscheidung zwischen Merkmalsträgern und Tätern zu etablieren.
Es gibt viele Strukturen, wie Sportvereine, Chöre, wo Menschen mit Kindern zu tun haben, die von Prävention überhaupt nicht erfasst werden. Was könnte da ein Modell für die Zukunft sein?
Man müsste das Thema offensiv bei der Besetzung sämtlicher Stellen zur Sprache bringen - ob Chorleiter, Pfarrer, Trainer, Ausbilder, Betreuer oder Sozialarbeiter. Wir wissen, es gibt Pädophilie als Sexualpräferenz. Jeder, der in diesem Bereich arbeiten will, tut gut daran, klären zu lassen, ob das bei ihm vorliegt oder nicht. Das ist bei einer einvernehmlichen Untersuchung zweifelsfrei festzustellen. Durch das offene Ansprechen würde schon ein anderer Umgang möglich. Bisher wird das ausgeblendet, und wenn Taten passieren, geht es um Strafrechtsverschärfung. Die Forderung nach einem erweiterten Führungszeugnis ist ja auch nur Versuch, über einen juristischen Hebel das eigentliche Problem anzugehen. Aber in einem Führungszeugnis werden nur rechtsbekannte Taten erfasst. Das ist bei der überwiegenden Anzahl der Taten aber nicht der Fall, sie gelangen nicht zur Anzeige; sie ereignen sich im so genannten Dunkelfeld und tauchen folglich in keiner Kriminalstatistik und keinem Führungszeugnis auf. Hier wird Sicherheit suggeriert, die nicht erbracht werden kann.
Was kann die Alternative sein?
Wer in der Küche arbeitet, muss einen Gesundheitspass vorlegen. So wird sichergestellt, dass keine ansteckenden Krankheiten an andere weitergegeben werden. Niemand wird dadurch stigmatisiert. Warum geht das nicht im pädagogischen Bereich?
Wahrscheinlich fühlt sich das doch sehr unterschiedlich an, ob ich nachweisen muss, dass ich keine Tollwut Hepatitis habe, oder ob ich nachweisen muss, dass ich durch ein Kind nicht sexuell ansprechbar bin.
Genau das müssen wir ändern, dass sich das so unterschiedlich anfühlt. Es handelt sich bei Pädophilie um eine chronische Erkrankung der Sexualpräferenz, die von der Weltgesundheitsorganisation seit Jahrzehnten als krankheitswerte Störung indiziert ist. Jemand, der diese Krankheit hat, hat Patientenstatus und damit Behandlungsbedarf, genau wie jemand, der Hepatitis hat.
Wird damit nicht letztlich doch jedem, der einen Beruf mit Kindern ergreifen will, unterstellt, er sei pädophil?
Nein. Wir wissen, dass Pädophile gerne pädagogische Berufe ergreifen. Nicht um dort mit sinistren Täterstrategien Kinder missbrauchen zu können, sondern weil Kinder die einzigen Sozial- und Beziehungspartner sind, bei denen Pädophile sich wohlfühlen. Die wollen mit Kindern ganzheitliche Beziehungserfahrungen und Kontakte. Ein Teil davon ist verhängnisvollerweise Sexualität, wie bei uns allen, aber vor allem wollen sie Kontakt und Nähe mit Kindern. Deshalb muss die Gesellschaft Courage zeigen und sagen, es geht nicht um eine Generalverdächtigung oder eine Unterstellung, sondern es geht um Kinderschutz. Es ist ernst genommener Kinderschutz zu sagen, jeder, der einen pädagogischen Job will, geht vorher durchs Screening. So wie jeder, der in die Küche will, eine Gesundheitspass vorlegen muss. Es ist uns wichtiger, Kinder zu schützen, als jemanden davor zu bewahren, sich seiner Sexualpräferenz klar zu werden. Die sexualpsychologischen Methoden und Verfahren dafür gibt es. Was fehlt, sind die Leute, die das sachverständig handhaben können. Kein Facharzt oder Fachtherapeut lernt die Diagnostik und Behandlung sexueller Störungen. Auch da ist die gesellschaftliche Ausgrenzung des Themas Sexualität universitär etabliert.
Wäre nicht schon mehr Supervision eine Möglichkeit?
Ja sicher, wenn die Eingangsvoraussetzungen erfüllt sind. Supervision ist nur dann sinnvoll, wenn die Supervisanden ein Bewusstsein dafür haben, dass es sein kann, dass sie ein sexualpräferenzielles Problem haben. Sonst können sie ihre Gedanken und Gefühle in der Supervision nicht zur Disposition stellen. Außerdem brauchen wir Supervisoren, die das blicken und die aufgrund ihrer Ausbildung bereit sind, das Thema Pädophilie überhaupt mit einzubeziehen. Alles das bleibt bisher aus. Da müsste der Wille bestehen, spezielle Ausbildungen anzubieten und Experten auszubilden.
Einerseits gibt es den Runden Tisch gegen Kindesmissbrauch und die Bundesbeauftragte, andererseits gibt es kaum Gelder und Projekte für die Ausbildung. Ist das nicht kontraproduktiv?
Das ist paradox und vor allem bigott. Wenn Wissenschaftler sich mühsam aus Drittmitteln finanzieren müssen und wichtige Forschungseinrichtungen abgewickelt werden, dann gibt es eben kein ernsthaftes gesellschaftliches Engagement für Kinderschutz. Das drückt sich allein in Geld aus, und Geld gibt es in dem Bereich wenig. Das Geld müsste in die Facharbeit fließen, in Forschung, Klinik und Lehre. Versorgungstechnisch lebt ein Pädophiler, der in Deutschland Hilfe sucht, in Afrika.
So lange es den von Ihnen angestrebten Paradigmenwechsel nicht gibt, müssen eben Eltern ihre Kinder schützen. Nur wie?
Durch Liebe. Sicher gebundene Kinder, die ein Zuhause haben und die zu ihren primären Bezugspersonen ein authentisches, warmes, sicheres Bindungsverhältnis haben, die angeguckt und liebgehabt werden, denen zugehört wird, die sich geborgen fühlen und wichtig gefunden werden – das ist der beste Opferschutz. Die Einlassstelle für einen potenziellen Täter ist der Hunger der Kinder nach Aufmerksamkeit und Liebe. Da kommt das Problem wieder zurück in die Mitte der Gesellschaft.
Mit Christoph Joseph Ahlers sprach Solveig Bach
Christoph Joseph Ahlers
http://sexualtherapie-berlin.de/
"Externer Klinischer und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des
Universitätsklinikums Charité Berlin Campus Mitte der
Freien und Humboldt-Universität zu Berlin "