Das Zaubermedaillon (Ein Weihnachtsgruß von Lewis Carroll)
Verfasst: 24.12.2011, 00:24
Das Zaubermedaillon
"Es ist einfach wunderschön", rief Sylvie entzückt. "Bruno, schau doch nur mal!" Und damit er das Licht hindurchschimmern sehen konnte, hielt sie ein offenbar aus einem einzigen leuchtend blauen Edelstein geschnittenes herzförmiges Medaillon hoch, an dem ein dünnes Goldkettchen hing.
"Sehr hübsch", bemerkte Bruno trocken und entzifferte die eingravierten Wörter. "Jedermann - liebt - Sylvie", brachte er schließlich heraus. "Das stimmt!", rief er und flog ihr um den Hals. "Jedermann liebt Sylvie!"
"Aber wir am allermeisten, nicht wahr Bruno?" sprach der alte König, als er das Medaillon wieder an sich nahm. "Und jetzt sie dir das an, Sylvie." Er präsentierte ihr auf dem Handteller ein purpurrotes Medaillon, das dieselbe Form wie das blaue aufwies und ebenfalls an einem schlanken Goldkettchen hing.
"Wunderwunderschön!" rief Sylvie und rang vor Begeisterung die Hände. "Schau mal, Bruno!"
"Und Worte stehen auch wieder drauf", sagte Bruno. "Sylvie - liebt - jedermann!"
"Jetzt kennst du den Unterschied", meinte der alte Mann, "verschiedene Farben und verschiedene Wörter. Such dir eines aus, Liebling. Das dir am besten gefällt, schenke ich dir."
Sylvie flüsterte die Worte mit einem nachdenklichen Lächeln einige Male vor sich hin und traf dann ihre Wahl. "Es ist sehr schön, geliebt zu werden", sagte sie, "aber noch schöner ist es, andere zu lieben! Schenkst du mir das rote, Vater?"
Der alte Mann erwiderte nichts: doch als er den Kopf neigte und die Lippen zu einem langen liebevollen Kuss auf ihre Stirn drückte, da sah ich, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Dann öffnete er den Verschluss des Kettchens und zeigte Sylvie, wie man das Medaillon um den Hals unter dem Kleid verborgen tragen konnte. "Du musst es gut aufbewahren, hörst du", sagte er mit gedämpfter Stimme, "andere Leute sollen es nicht sehen. Vergisst du auch nicht, wie man es benutzt?"
"Nein, bestimmt nicht", versprach Sylvie.









Es war kein gewöhnlicher Lampenschein, in den ich jetzt mit einem werkwürdigen ungewohnten Traumgefühl trat; über allem lag ein feiner Zauber. Licht, strahlender und goldener, als eine Lampe es je zu spenden vermochte, durchflutete den Raum, strömte durch ein Fenster, das ich bisher irgendwie nie bemerkt hatte, und beleuchtete eine Gruppe von drei Silhouetten, deren Umrisse sich immer deutlicher herausschälten - ein würdevoller alter Mann in königlichen Gewändern lehnte an einem Sessel, und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge standen neben ihm.
"Hast du noch den Edelstein, mein Kind?" sagte der alte Mann eben.
"Aber ja!" rief Sylvie mit ungewohntem Eifer. "Glaubst du, ich könnte ihn jemals verlieren oder vergessen?" Mit diesen Worten löste sie das Band von ihrem Hals und legte den Edelstein in die Hand ihres Vaters.
Bruno schaute ihn bewundernd an. "Der funkelt aber wunderschön! sagte er. „Wie ein kleiner roter Stern! Darf ich ihn mal haben?"
Sylvie nickte, und Bruno ging mit dem Edelstein ans Fenster und hielt ihn hoch gegen den Himmel, dessen tiefes Blau schon sternenbesät war. Es dauerte nicht lange, da kam Bruno ganz aufgeregt angerannt. "Sylvie! Sieh mal!" rief er. "Ich kann durchgucken, wenn ich ihn gegen den Himmel halte. Und rot ist er auch nicht. Sondern ganz wunderschön blau! Und es sind auch ganz andere Wörter! Schau doch nur!"
Inzwischen war auch Sylvie ganz aufgeregt, und die beiden Kinder hielten den Edelstein gespannt gegen das Licht und entzifferten gemeinsam die Inschrift: "Jedermann liebt Sylvie".
"Aber das ist ja der andere Edelstein!" rief Bruno. "Erinnerst du dich denn nicht, Sylvie? Der, den du dir nicht rausgesucht hast!"
Sylvie nahm den Edelstein verwirrt an sich und hielt ihn erst mit der einen, dann mit der anderen Seite gegen das Licht. "Auf der einen Seite ist er blau", flüsterte sie vor sich hin, "und auf der anderen rot! Ich dachte immer, es gäbe zwei. - Vater!" rief sie plötzlich und legte den Edelstein in dessen Hand zurück, "jetzt glaube ich, es war die ganze Zeit derselbe Edelstein!"
"Dann has’de ihn dir ja aus sich selber rausgesucht", meinte Bruno nachdenklich. "Vater, kann Sylvie etwas aus sich selber raussuchen?"
"Ja, mein geliebtes Kind", wandte sich der alte Mann an Sylvie, ohne auf Brunos komplizierte Frage einzugehen, "es gab immer nur einen Edelstein - aber du hast die richtige Wahl getroffen." Und er befestigte das Band wieder an ihrem Hals.
"Sylvie liebt jedermann - Jedermann liebt Sylvie" murmelte Bruno und reckte sich auf die Zehenspitzen, um den "kleinen roten Stern" zu küssen. "Und wenn man ihn anguckt, dann ist er rot und feurig wie die Sonne - und wenn man durch ihn durchguckt, dann ist er sanft und blau wie der Himmel!"
"Gottes Himmel", sagte Sylvie verträumt.
"Gottes Himmel", wiederholte das Kerlchen, als sie liebevoll umschlungen am Fenster standen und hinausblickten in die Nacht. "Aber Sylvie, was macht den Himmel denn so wunderherrlich blau?" Sylvies süße Lippen wollten antworten, aber ihre Stimme klang leise und sehr weit weg. Die Vision entglitt rasch meinem Blick, aber mir schien, dass in diesem letzten, verwirrenden Moment nicht Sylvie, sondern ein Engel aus diesen vertrauensvollen, braunen Augen blickte und dass nicht Sylvies Stimme, sondern die eines Engels flüsterte:
"Es ist die Liebe."
Der Text stammt aus: Carroll, Lewis: Sylvie und Bruno. Eine Geschichte. Ins Deutsche übertragen von Michael Walter und Sabine Hübner. Mit einem Nachwort von Joachim Kalka. München 2006.
Frohe Weihnachten wünscht auch
Bruno
"Es ist einfach wunderschön", rief Sylvie entzückt. "Bruno, schau doch nur mal!" Und damit er das Licht hindurchschimmern sehen konnte, hielt sie ein offenbar aus einem einzigen leuchtend blauen Edelstein geschnittenes herzförmiges Medaillon hoch, an dem ein dünnes Goldkettchen hing.
"Sehr hübsch", bemerkte Bruno trocken und entzifferte die eingravierten Wörter. "Jedermann - liebt - Sylvie", brachte er schließlich heraus. "Das stimmt!", rief er und flog ihr um den Hals. "Jedermann liebt Sylvie!"
"Aber wir am allermeisten, nicht wahr Bruno?" sprach der alte König, als er das Medaillon wieder an sich nahm. "Und jetzt sie dir das an, Sylvie." Er präsentierte ihr auf dem Handteller ein purpurrotes Medaillon, das dieselbe Form wie das blaue aufwies und ebenfalls an einem schlanken Goldkettchen hing.
"Wunderwunderschön!" rief Sylvie und rang vor Begeisterung die Hände. "Schau mal, Bruno!"
"Und Worte stehen auch wieder drauf", sagte Bruno. "Sylvie - liebt - jedermann!"
"Jetzt kennst du den Unterschied", meinte der alte Mann, "verschiedene Farben und verschiedene Wörter. Such dir eines aus, Liebling. Das dir am besten gefällt, schenke ich dir."
Sylvie flüsterte die Worte mit einem nachdenklichen Lächeln einige Male vor sich hin und traf dann ihre Wahl. "Es ist sehr schön, geliebt zu werden", sagte sie, "aber noch schöner ist es, andere zu lieben! Schenkst du mir das rote, Vater?"
Der alte Mann erwiderte nichts: doch als er den Kopf neigte und die Lippen zu einem langen liebevollen Kuss auf ihre Stirn drückte, da sah ich, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Dann öffnete er den Verschluss des Kettchens und zeigte Sylvie, wie man das Medaillon um den Hals unter dem Kleid verborgen tragen konnte. "Du musst es gut aufbewahren, hörst du", sagte er mit gedämpfter Stimme, "andere Leute sollen es nicht sehen. Vergisst du auch nicht, wie man es benutzt?"
"Nein, bestimmt nicht", versprach Sylvie.









Es war kein gewöhnlicher Lampenschein, in den ich jetzt mit einem werkwürdigen ungewohnten Traumgefühl trat; über allem lag ein feiner Zauber. Licht, strahlender und goldener, als eine Lampe es je zu spenden vermochte, durchflutete den Raum, strömte durch ein Fenster, das ich bisher irgendwie nie bemerkt hatte, und beleuchtete eine Gruppe von drei Silhouetten, deren Umrisse sich immer deutlicher herausschälten - ein würdevoller alter Mann in königlichen Gewändern lehnte an einem Sessel, und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge standen neben ihm.
"Hast du noch den Edelstein, mein Kind?" sagte der alte Mann eben.
"Aber ja!" rief Sylvie mit ungewohntem Eifer. "Glaubst du, ich könnte ihn jemals verlieren oder vergessen?" Mit diesen Worten löste sie das Band von ihrem Hals und legte den Edelstein in die Hand ihres Vaters.
Bruno schaute ihn bewundernd an. "Der funkelt aber wunderschön! sagte er. „Wie ein kleiner roter Stern! Darf ich ihn mal haben?"
Sylvie nickte, und Bruno ging mit dem Edelstein ans Fenster und hielt ihn hoch gegen den Himmel, dessen tiefes Blau schon sternenbesät war. Es dauerte nicht lange, da kam Bruno ganz aufgeregt angerannt. "Sylvie! Sieh mal!" rief er. "Ich kann durchgucken, wenn ich ihn gegen den Himmel halte. Und rot ist er auch nicht. Sondern ganz wunderschön blau! Und es sind auch ganz andere Wörter! Schau doch nur!"
Inzwischen war auch Sylvie ganz aufgeregt, und die beiden Kinder hielten den Edelstein gespannt gegen das Licht und entzifferten gemeinsam die Inschrift: "Jedermann liebt Sylvie".
"Aber das ist ja der andere Edelstein!" rief Bruno. "Erinnerst du dich denn nicht, Sylvie? Der, den du dir nicht rausgesucht hast!"
Sylvie nahm den Edelstein verwirrt an sich und hielt ihn erst mit der einen, dann mit der anderen Seite gegen das Licht. "Auf der einen Seite ist er blau", flüsterte sie vor sich hin, "und auf der anderen rot! Ich dachte immer, es gäbe zwei. - Vater!" rief sie plötzlich und legte den Edelstein in dessen Hand zurück, "jetzt glaube ich, es war die ganze Zeit derselbe Edelstein!"
"Dann has’de ihn dir ja aus sich selber rausgesucht", meinte Bruno nachdenklich. "Vater, kann Sylvie etwas aus sich selber raussuchen?"
"Ja, mein geliebtes Kind", wandte sich der alte Mann an Sylvie, ohne auf Brunos komplizierte Frage einzugehen, "es gab immer nur einen Edelstein - aber du hast die richtige Wahl getroffen." Und er befestigte das Band wieder an ihrem Hals.
"Sylvie liebt jedermann - Jedermann liebt Sylvie" murmelte Bruno und reckte sich auf die Zehenspitzen, um den "kleinen roten Stern" zu küssen. "Und wenn man ihn anguckt, dann ist er rot und feurig wie die Sonne - und wenn man durch ihn durchguckt, dann ist er sanft und blau wie der Himmel!"
"Gottes Himmel", sagte Sylvie verträumt.
"Gottes Himmel", wiederholte das Kerlchen, als sie liebevoll umschlungen am Fenster standen und hinausblickten in die Nacht. "Aber Sylvie, was macht den Himmel denn so wunderherrlich blau?" Sylvies süße Lippen wollten antworten, aber ihre Stimme klang leise und sehr weit weg. Die Vision entglitt rasch meinem Blick, aber mir schien, dass in diesem letzten, verwirrenden Moment nicht Sylvie, sondern ein Engel aus diesen vertrauensvollen, braunen Augen blickte und dass nicht Sylvies Stimme, sondern die eines Engels flüsterte:
"Es ist die Liebe."
Der Text stammt aus: Carroll, Lewis: Sylvie und Bruno. Eine Geschichte. Ins Deutsche übertragen von Michael Walter und Sabine Hübner. Mit einem Nachwort von Joachim Kalka. München 2006.
Frohe Weihnachten wünscht auch
Bruno