Es läuft etwas schief im Kinderland
Verfasst: 10.07.2011, 22:00
Quelle des gesamten Textes:
http://www.suedkurier.de/news/seite3/Es ... 98,2375630
GLF-Moderation
"Der Realschüler, der Kurt hieß, trat dicht vor Kreuzkamms Stuhl, hob die linke Hand und schlug zu. Dann hob er die rechte, schlug nochmals. Das wären zwei, fehlen noch vier', sagte er, hob wieder die linke Hand - aber da war auch schon Matthias neben ihm und die dritte Ohrfeige kriegte Kurt selbst. Er flog krachend in Egerlands Christbaum, blieb in den Tannennadeln sitzen und hielt sich heulend die linke Gesichtshälfte..."
Die beschriebene Szene stammt nicht aus einem Polizeibericht. Man liest dies ausführlich in dem Kinderbuchklassiker "Das fliegende Klassenzimmer" von Erich Kästner. Wenige Seiten zuvor prügeln sich die rivalisierenden Realschüler und Gymnasiasten mit allen nur erdenklichen Tricks. Da wird dem schon "vollkommen erledigten und wehrlosen Heinrich Wawerka" in den Rücken getreten, werden Gesichter brutal in den Schnee gedrückt und gibt es blaue Augen reihenweise. Was Mitte der 1950er Jahre als Kinderbuch auf den Markt kam, hätte heute locker das Zeug zur Boulevard-Schlagzeile, Marke "Horrorkinder".
Stellt sich die Frage, war die kindliche Aggressivität, die heute häufig beklagt wird, vor 40 oder 50 Jahren eine andere? Oder sind die Sichtweisen von Eltern, Erziehern, der Gesellschaft andere geworden? Welche Lebenswelt, welche lebenswerte Welt, bietet sich heute Kindern in einem Land, das sich nun vollmundig "Kinderland" nennt?
Wer heute als Endvierziger den Versuch macht, sich auf seine eigene Kindheit zu besinnen, dürfte über kurz oder lang auf eine Menge Erlebnisse und Geschichten kommen, von denen heutige Kinder und deren Eltern nur träumen können. Oder, je nach dem, albträumen.
Womit hat man als Kind so seine Zeit verbracht? Fernsehen? In den frühen 60ern hatte man gerade zwei Programme, deren Inhalt meist den Erwachsenen vorbehalten war; außer Lassie, Flipper und Bill Bo vielleicht. Heute steht in vielen Kinderzimmern neben der Stereoanlage auch noch Computer, Fernseher und Playstation. Wenn es nicht grade Hunde und Katzen regnete, hieß es damals von Seiten der Eltern lapidar: "Raus mit euch." Ja, mit euch, denn man hatte ja mindestens zwei oder drei Geschwister, mit denen man ein Zimmer teilen musste. Und, so hieß es weiter, "kommt erst wieder, wenn es dunkel wird". Da konnte der Tag ziemlich lang sein. Aber zum Glück gab es ja noch Nachbarskinder, die ebenfalls etliche Geschwister hatten, schon war man eine "Kinderbande". Mit Anführer, Geheimplätzen, Mutproben und einer Menge zerrissenen Hosen.
Die Nachmittage - Schule verteilte sich damals auf die Vormittage zwischen Montag und einschließlich Samstag - hatte man also ausreichend damit zu tun, sich der Angriffe der anderen Kinderbanden aus den umliegenden Wohngebieten zu erwehren. "Umliegend", das hieß manchmal ziemlich weite Wegstrecken. Zu Fuß versteht sich, wer hatte da schon ein Auto? Jedenfalls galt, je weiter weg, desto abenteuerlicher wurde es. Da legte man als Achtjähriger durchaus mal zwei bis drei Kilometer zurück, nur um eine Trophäe zu erbeuten. Wenn man Pech hatte, wurde man erwischt. Und bekam von den "Anderen" gehörig die Hucke voll. Kalkuliertes Risiko eben. Dafür war man in der eigenen Bande der King. Man hatte Mut bewiesen.
Genauso, wenn man auf dem Fabrikgelände nebenan heimlich ein Feuer machte. Wehe der Hausmeister bekam einen in die Finger. Dann gab´s heiße Ohren. Und wenn das noch daheim rauskam, setzte es Dresche obendrauf. Nicht dass die Eltern gewalttätig waren. Aber mindestens einmal im Jahr trieb man es schon so weit, dass einem die Hosen stramm gezogen wurden. Eine Ohrfeige hatte man sich sowieso schneller eingefangen als einen Schnupfen. Damals, als Kindheit noch hieß, ausprobieren, testen, Grenzen gesetzt bekommen.
Heute kann man von Glück sagen, wenn man Kinder unter zehn Jahren draußen antrifft, ohne dass besorgte Muttis jeden Schritt und Tritt der lieben Kleinen überwachen. Meist haben diese, nicht selten als Einzelkinder ohne Vater aufwachsend, ein Handy dabei, ständig auf Abruf, immer lokalisierbar. Könnte ja was passieren. Vergewaltiger und Kindsmörder sind tägliches Medienfutter, diese Vorstellung sitzt in den Köpfen der Alten. Auch wenn es heute nachweislich nicht mehr Vorfälle dieser Art gibt als vor 40 Jahren. Wöchentlich sterben dagegen durchschnittlich drei Kinder in der Bundesrepublik, weil sie von ihren Eltern vernachlässigt werden.
Zu Fuß irgendwo hin, allein? Es fängt schon beim Schulweg an. Allenthalben werden zwar Parolen ausgestreut wie "Walk to school". Doch sobald der Schulweg länger als 700 Meter ist, beträgt die Rate der mit dem Auto gefahrenen Kinder 70 Prozent und mehr. Die armen Kleinen könnten ja Plattfüße bekommen. Tatsächlich werden sie immer dicker, unbeweglicher. Interessante Studien und Vergleichszahlen zu früher gibt es darüber zu Hauf.
Kinderbanden? Woher, bitteschön, sollen Kinder die Zeit für solchen Luxus nehmen? Grundschulkinder mit Managerkrankheiten sind stark im Kommen. Treffen mit anderen? Erst mal im Terminkalender, pardon, Organizer schauen. Nachhilfeunterricht ab Klasse 2 ist schon Pflicht, damit der Start in die berufliche Karriere später einmal sicher klappt, daneben weitere "Freizeitaktivitäten" wie Ballett, Musikschule, Reiten Elterliche Fürsorge kann ähnlich verheerend wirken wie Vernachlässigung. Und wenn Kinder dann mal Zeit füreinander haben? Wo zwei zusammenkommen, soll die Playstation unter ihnen sein.
Wo gibt es noch Treffpunkte für Kinder, im Freien? 55 Millionen Kraftfahrzeuge (Stand Januar 2006, vierzig Jahre zuvor waren es 11 Millionen) benötigen viel Platz, sowohl stehend als auch fahrend. Der Mobilitätsradius heutiger Kinder (zu Fuß) beschränkt sich auf einen durchschnittlichen Umkreis von 100 Metern und endet an der nächsten Hauptstraße, die zu überqueren selbst für Erwachsene ein lebensgefährliches Unterfangen ist. Und wo Kinder einmal tatsächlich gemeinsam toben, fühlt sich garantiert irgendein Rentner (von denen es schon wesentlich mehr gibt als Kinder) in seiner wohlverdienten Ruhe gestört. Bürgerinitiativen gegen Spielplätze sind traurige Realität. Auch wenn Bundespräsident Horst Köhler einst in seiner Antrittsrede forderte, dass es keine Schilder "Spielen verboten" mehr geben dürfe. Dafür gibt es jetzt überall Sozialraumteams, Erlebnispädagogen und Streitschlichter, die den Kindern zeigen sollen, wo es lang geht.
Doch in welche Richtung? Erstaunlich häufig wissen die Eltern selbst nicht mehr, wohin die Kompassnadel "Erziehung" eigentlich zeigen müsste. Respekt? Rücksicht? Toleranz? Da gibt es täglich beobachtbare Szenen von Müttern an der Supermarktkasse oder auf dem Spielplatz, die von ihrem dreijährigen "Prinzen" in die Waden getreten werden, weil irgendwas nicht so läuft wie der junge Herr erwartet. Warum Mutti denn so etwas mit sich machen lässt, möchte man da wissen. "Ich weiß nicht, wie ich mich gegen ihn wehren soll", kommt oft die etwas hilflose, erschütternde Antwort. Ein anderer Fünfjähriger schlägt wahllos auf Kinder ein, terrorisiert seine Umgebung. "Das darf man aber nicht, du süßer kleiner Fratz", lacht Mami mit beängstigender Naivität. Und der streckt nur die Zunge raus.
Der Erstklässler, der seiner Lehrerin (es sind meist Frauen, die in Grundschulen unterrichten) den Stinkefinger zeigt oder über Tische und Bänke geht, hat eben ADHS. Aufmerksamkeitshyperaktivitätssyndrom, der Schlager für Eltern und Pharmaindustrie. "Ritalin, leicht umspült dich weicher Schaum", möchte man da in Anlehnung eines uralten Werbeliedes trällern. Und wenn alle Erklärungsmuster nichts nutzen bleibt einem noch die Ausrede "Impfschaden". Irgendwas wird schon schuld sein.
Nein, früher war nicht alles besser. Kindheit allerdings schon. Zumindest in der Erinnerung.
Was läuft schief im Kinderland?
Was war früher besser, was war schlechter? Brauchen Kinder mehr Strenge oder mehr Toleranz?
http://www.suedkurier.de/news/seite3/Es ... 98,2375630
GLF-Moderation
"Der Realschüler, der Kurt hieß, trat dicht vor Kreuzkamms Stuhl, hob die linke Hand und schlug zu. Dann hob er die rechte, schlug nochmals. Das wären zwei, fehlen noch vier', sagte er, hob wieder die linke Hand - aber da war auch schon Matthias neben ihm und die dritte Ohrfeige kriegte Kurt selbst. Er flog krachend in Egerlands Christbaum, blieb in den Tannennadeln sitzen und hielt sich heulend die linke Gesichtshälfte..."
Die beschriebene Szene stammt nicht aus einem Polizeibericht. Man liest dies ausführlich in dem Kinderbuchklassiker "Das fliegende Klassenzimmer" von Erich Kästner. Wenige Seiten zuvor prügeln sich die rivalisierenden Realschüler und Gymnasiasten mit allen nur erdenklichen Tricks. Da wird dem schon "vollkommen erledigten und wehrlosen Heinrich Wawerka" in den Rücken getreten, werden Gesichter brutal in den Schnee gedrückt und gibt es blaue Augen reihenweise. Was Mitte der 1950er Jahre als Kinderbuch auf den Markt kam, hätte heute locker das Zeug zur Boulevard-Schlagzeile, Marke "Horrorkinder".
Stellt sich die Frage, war die kindliche Aggressivität, die heute häufig beklagt wird, vor 40 oder 50 Jahren eine andere? Oder sind die Sichtweisen von Eltern, Erziehern, der Gesellschaft andere geworden? Welche Lebenswelt, welche lebenswerte Welt, bietet sich heute Kindern in einem Land, das sich nun vollmundig "Kinderland" nennt?
Wer heute als Endvierziger den Versuch macht, sich auf seine eigene Kindheit zu besinnen, dürfte über kurz oder lang auf eine Menge Erlebnisse und Geschichten kommen, von denen heutige Kinder und deren Eltern nur träumen können. Oder, je nach dem, albträumen.
Womit hat man als Kind so seine Zeit verbracht? Fernsehen? In den frühen 60ern hatte man gerade zwei Programme, deren Inhalt meist den Erwachsenen vorbehalten war; außer Lassie, Flipper und Bill Bo vielleicht. Heute steht in vielen Kinderzimmern neben der Stereoanlage auch noch Computer, Fernseher und Playstation. Wenn es nicht grade Hunde und Katzen regnete, hieß es damals von Seiten der Eltern lapidar: "Raus mit euch." Ja, mit euch, denn man hatte ja mindestens zwei oder drei Geschwister, mit denen man ein Zimmer teilen musste. Und, so hieß es weiter, "kommt erst wieder, wenn es dunkel wird". Da konnte der Tag ziemlich lang sein. Aber zum Glück gab es ja noch Nachbarskinder, die ebenfalls etliche Geschwister hatten, schon war man eine "Kinderbande". Mit Anführer, Geheimplätzen, Mutproben und einer Menge zerrissenen Hosen.
Die Nachmittage - Schule verteilte sich damals auf die Vormittage zwischen Montag und einschließlich Samstag - hatte man also ausreichend damit zu tun, sich der Angriffe der anderen Kinderbanden aus den umliegenden Wohngebieten zu erwehren. "Umliegend", das hieß manchmal ziemlich weite Wegstrecken. Zu Fuß versteht sich, wer hatte da schon ein Auto? Jedenfalls galt, je weiter weg, desto abenteuerlicher wurde es. Da legte man als Achtjähriger durchaus mal zwei bis drei Kilometer zurück, nur um eine Trophäe zu erbeuten. Wenn man Pech hatte, wurde man erwischt. Und bekam von den "Anderen" gehörig die Hucke voll. Kalkuliertes Risiko eben. Dafür war man in der eigenen Bande der King. Man hatte Mut bewiesen.
Genauso, wenn man auf dem Fabrikgelände nebenan heimlich ein Feuer machte. Wehe der Hausmeister bekam einen in die Finger. Dann gab´s heiße Ohren. Und wenn das noch daheim rauskam, setzte es Dresche obendrauf. Nicht dass die Eltern gewalttätig waren. Aber mindestens einmal im Jahr trieb man es schon so weit, dass einem die Hosen stramm gezogen wurden. Eine Ohrfeige hatte man sich sowieso schneller eingefangen als einen Schnupfen. Damals, als Kindheit noch hieß, ausprobieren, testen, Grenzen gesetzt bekommen.
Heute kann man von Glück sagen, wenn man Kinder unter zehn Jahren draußen antrifft, ohne dass besorgte Muttis jeden Schritt und Tritt der lieben Kleinen überwachen. Meist haben diese, nicht selten als Einzelkinder ohne Vater aufwachsend, ein Handy dabei, ständig auf Abruf, immer lokalisierbar. Könnte ja was passieren. Vergewaltiger und Kindsmörder sind tägliches Medienfutter, diese Vorstellung sitzt in den Köpfen der Alten. Auch wenn es heute nachweislich nicht mehr Vorfälle dieser Art gibt als vor 40 Jahren. Wöchentlich sterben dagegen durchschnittlich drei Kinder in der Bundesrepublik, weil sie von ihren Eltern vernachlässigt werden.
Zu Fuß irgendwo hin, allein? Es fängt schon beim Schulweg an. Allenthalben werden zwar Parolen ausgestreut wie "Walk to school". Doch sobald der Schulweg länger als 700 Meter ist, beträgt die Rate der mit dem Auto gefahrenen Kinder 70 Prozent und mehr. Die armen Kleinen könnten ja Plattfüße bekommen. Tatsächlich werden sie immer dicker, unbeweglicher. Interessante Studien und Vergleichszahlen zu früher gibt es darüber zu Hauf.
Kinderbanden? Woher, bitteschön, sollen Kinder die Zeit für solchen Luxus nehmen? Grundschulkinder mit Managerkrankheiten sind stark im Kommen. Treffen mit anderen? Erst mal im Terminkalender, pardon, Organizer schauen. Nachhilfeunterricht ab Klasse 2 ist schon Pflicht, damit der Start in die berufliche Karriere später einmal sicher klappt, daneben weitere "Freizeitaktivitäten" wie Ballett, Musikschule, Reiten Elterliche Fürsorge kann ähnlich verheerend wirken wie Vernachlässigung. Und wenn Kinder dann mal Zeit füreinander haben? Wo zwei zusammenkommen, soll die Playstation unter ihnen sein.
Wo gibt es noch Treffpunkte für Kinder, im Freien? 55 Millionen Kraftfahrzeuge (Stand Januar 2006, vierzig Jahre zuvor waren es 11 Millionen) benötigen viel Platz, sowohl stehend als auch fahrend. Der Mobilitätsradius heutiger Kinder (zu Fuß) beschränkt sich auf einen durchschnittlichen Umkreis von 100 Metern und endet an der nächsten Hauptstraße, die zu überqueren selbst für Erwachsene ein lebensgefährliches Unterfangen ist. Und wo Kinder einmal tatsächlich gemeinsam toben, fühlt sich garantiert irgendein Rentner (von denen es schon wesentlich mehr gibt als Kinder) in seiner wohlverdienten Ruhe gestört. Bürgerinitiativen gegen Spielplätze sind traurige Realität. Auch wenn Bundespräsident Horst Köhler einst in seiner Antrittsrede forderte, dass es keine Schilder "Spielen verboten" mehr geben dürfe. Dafür gibt es jetzt überall Sozialraumteams, Erlebnispädagogen und Streitschlichter, die den Kindern zeigen sollen, wo es lang geht.
Doch in welche Richtung? Erstaunlich häufig wissen die Eltern selbst nicht mehr, wohin die Kompassnadel "Erziehung" eigentlich zeigen müsste. Respekt? Rücksicht? Toleranz? Da gibt es täglich beobachtbare Szenen von Müttern an der Supermarktkasse oder auf dem Spielplatz, die von ihrem dreijährigen "Prinzen" in die Waden getreten werden, weil irgendwas nicht so läuft wie der junge Herr erwartet. Warum Mutti denn so etwas mit sich machen lässt, möchte man da wissen. "Ich weiß nicht, wie ich mich gegen ihn wehren soll", kommt oft die etwas hilflose, erschütternde Antwort. Ein anderer Fünfjähriger schlägt wahllos auf Kinder ein, terrorisiert seine Umgebung. "Das darf man aber nicht, du süßer kleiner Fratz", lacht Mami mit beängstigender Naivität. Und der streckt nur die Zunge raus.
Der Erstklässler, der seiner Lehrerin (es sind meist Frauen, die in Grundschulen unterrichten) den Stinkefinger zeigt oder über Tische und Bänke geht, hat eben ADHS. Aufmerksamkeitshyperaktivitätssyndrom, der Schlager für Eltern und Pharmaindustrie. "Ritalin, leicht umspült dich weicher Schaum", möchte man da in Anlehnung eines uralten Werbeliedes trällern. Und wenn alle Erklärungsmuster nichts nutzen bleibt einem noch die Ausrede "Impfschaden". Irgendwas wird schon schuld sein.
Nein, früher war nicht alles besser. Kindheit allerdings schon. Zumindest in der Erinnerung.
Was läuft schief im Kinderland?
Was war früher besser, was war schlechter? Brauchen Kinder mehr Strenge oder mehr Toleranz?