Girllove versus Boylove / Idealismus versus Dekadenz?
Verfasst: 25.06.2010, 14:37
Dass das (neuzeitliche) traditionelle inhaltliche Fundament des Girllove zu einem wesentlichen Teil im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in den idealistisch orientierten bürgerlichen Kreisen der "Romantiker" zu suchen ist, ist wohl kaum eine neue Erkenntnis. (Und das nicht nur, weil wir gleich an Novalis als den "Klassiker" unter den Romantikern denken.) Interessanter könnte die Sache werden, wenn in Analogie dazu das (neuzeitliche) Fundament des Boylove verortet werden soll. Denn bei den idealistischen Romantikern, die Kindheit per se stark weiblich konnotierten, ist letzteres wohl kaum zu finden.
Anders stellt sich die Sache aber fast ein Jahrhundert nach dem Einsetzen der bürgerlich-idealistischen Phase, im ausgehenden 19. Jahrhundert, dar. Das idealistische Konzept der Romantiker musste nun - in einer stark veränderten Gesellschaft - bekanntlich zu einem guten Teil anderen Welt- und Lebensentwürfen weichen, die sich u.a. durch Schlagworte wie "Materialismus", "Hedonismus", "Dekadenz" begrifflich einkreisen lassen. Dass sich just in diesem Milieu eine Sehnsucht nach "ewiger Jugend" zum literarisch-philosophischen Thema entwickelte, kann wohl kaum als Zufall angesehen werden. Oscar Wildes Dorian Gray, der sich in sein eigenes - ewig junges - Portrait verliebt (und schließlich Rollen tauscht und das Portrait an seiner Stelle altern lässt), und James Barries Peter Pan, der Junge, der nicht erwachsen werden will, sind nur zwei berühmte einschlägige Beispiele. Oscar Wildes Homosexualität und James Barries postulierte Affinität zur Boylover-Persönlichkeit sind hinlänglich bekannt.
Immerhin haben die beiden genannten Titelhelden sogar Eingang in die Wissenschaft gefunden: in Gestalt des "Dorian-Gray-Syndroms" und des "Peter-Pan-Syndroms", die beide durch Narzissmus, Sexismus, Verantwortungslosigkeit, Unfähigkeit zu tiefer Liebe und daraus resultierender Einsamkeit gekennzeichnet sind.
Catherine Robson konstatiert in ihrem Buch "Men in Wonderland" [*] die brisante Tatsache, dass die Idee "Kind" von einer dominant weiblichen Konnotation im 19. Jahrhundert gegen die Wende zum 20.Jahrhundert hin von einer männlichen Konnotation abgelöst wird. Robson führt dazu mehrere Beispiele aus der Literatur an (neben den erwähnten Werken etwa Stevensons Treasure Island oder Kiplings Jungle Book), aber auch etwa Baden-Powells Pfadfinderbewegung (Baden-Powell ist als Boylover-Persönlichkeit bekannt!) und schließlich Sigmund Freud, in dessen wissenschaftlichen Abhandlungen freilich auch stets der Knabe die Idee "Kind" repräsentiert.
Mit der Verschiebung der Idee "Kind" von einer weiblichen hin zu einer männlichen Konnotation gingen andere Verschiebungen einher: Die Verschiebung von der Kindheit hin zur Jugend als neuem kulturellen Bezugspunkt (Jugend als "neu" entstandene und - im Gegensatz zur traditionell weiblich konnotierten Kindheit - männlich konnotierte Lebensphase) und, damit in Verbindung stehend, die Verschiebung vom einst "asexuellen" Kind hin zum (implizit oder explizit) sexuellen Kind.
Durch die genannten Verschiebungen findet die "moderne" Beziehung zum Kind ihren dekadent-hedonistischen bzw. "materialistischen" Bezug, ihre "Verjugendlichung" und ihre (dominant) sexuelle Konnotation bzw. tatsächliche sexuelle Komponente. Um wie vieles unterscheidet sich etwa der Zugang des "modernen" Girllovers Peter Altenberg zum Mädchen von jenem eines Lewis Carroll! Und wo sich der moderne "Klassiker" eines Girllovers, Nabokovs Humbert Humbert, einreihen lässt, braucht hier wohl kaum näher erörtert werden.
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[*] Robson, Catherine: Men in Wonderland. The lost Girlhood of the Victorian Gentleman. Princeton N.J. 2001
Anders stellt sich die Sache aber fast ein Jahrhundert nach dem Einsetzen der bürgerlich-idealistischen Phase, im ausgehenden 19. Jahrhundert, dar. Das idealistische Konzept der Romantiker musste nun - in einer stark veränderten Gesellschaft - bekanntlich zu einem guten Teil anderen Welt- und Lebensentwürfen weichen, die sich u.a. durch Schlagworte wie "Materialismus", "Hedonismus", "Dekadenz" begrifflich einkreisen lassen. Dass sich just in diesem Milieu eine Sehnsucht nach "ewiger Jugend" zum literarisch-philosophischen Thema entwickelte, kann wohl kaum als Zufall angesehen werden. Oscar Wildes Dorian Gray, der sich in sein eigenes - ewig junges - Portrait verliebt (und schließlich Rollen tauscht und das Portrait an seiner Stelle altern lässt), und James Barries Peter Pan, der Junge, der nicht erwachsen werden will, sind nur zwei berühmte einschlägige Beispiele. Oscar Wildes Homosexualität und James Barries postulierte Affinität zur Boylover-Persönlichkeit sind hinlänglich bekannt.
Immerhin haben die beiden genannten Titelhelden sogar Eingang in die Wissenschaft gefunden: in Gestalt des "Dorian-Gray-Syndroms" und des "Peter-Pan-Syndroms", die beide durch Narzissmus, Sexismus, Verantwortungslosigkeit, Unfähigkeit zu tiefer Liebe und daraus resultierender Einsamkeit gekennzeichnet sind.
Catherine Robson konstatiert in ihrem Buch "Men in Wonderland" [*] die brisante Tatsache, dass die Idee "Kind" von einer dominant weiblichen Konnotation im 19. Jahrhundert gegen die Wende zum 20.Jahrhundert hin von einer männlichen Konnotation abgelöst wird. Robson führt dazu mehrere Beispiele aus der Literatur an (neben den erwähnten Werken etwa Stevensons Treasure Island oder Kiplings Jungle Book), aber auch etwa Baden-Powells Pfadfinderbewegung (Baden-Powell ist als Boylover-Persönlichkeit bekannt!) und schließlich Sigmund Freud, in dessen wissenschaftlichen Abhandlungen freilich auch stets der Knabe die Idee "Kind" repräsentiert.
Mit der Verschiebung der Idee "Kind" von einer weiblichen hin zu einer männlichen Konnotation gingen andere Verschiebungen einher: Die Verschiebung von der Kindheit hin zur Jugend als neuem kulturellen Bezugspunkt (Jugend als "neu" entstandene und - im Gegensatz zur traditionell weiblich konnotierten Kindheit - männlich konnotierte Lebensphase) und, damit in Verbindung stehend, die Verschiebung vom einst "asexuellen" Kind hin zum (implizit oder explizit) sexuellen Kind.
Durch die genannten Verschiebungen findet die "moderne" Beziehung zum Kind ihren dekadent-hedonistischen bzw. "materialistischen" Bezug, ihre "Verjugendlichung" und ihre (dominant) sexuelle Konnotation bzw. tatsächliche sexuelle Komponente. Um wie vieles unterscheidet sich etwa der Zugang des "modernen" Girllovers Peter Altenberg zum Mädchen von jenem eines Lewis Carroll! Und wo sich der moderne "Klassiker" eines Girllovers, Nabokovs Humbert Humbert, einreihen lässt, braucht hier wohl kaum näher erörtert werden.
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[*] Robson, Catherine: Men in Wonderland. The lost Girlhood of the Victorian Gentleman. Princeton N.J. 2001