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J.Reynolds' um 1788 geschaffenes Gemälde "The Age of Innocence" kann gewissermaßen programmatisch für das einsetzende - idealistisch geprägte - bürgerliche Zeitalter des Kindes stehen. Freilich hatte der Titel, der die Lebensphase des bürgerlichen Kindes als eine "Zeit der Unschuld" beschreibt, zunächst lediglich einen biographischen Bezug und offenbart sich erst im Rückblick in seiner nicht intendierten zweiten Bedeutung als "Zeitalter der Idee vom unschuldigen Bürgerkind".
Die sich im späten 18. Jahrhundert konsolidierende Vorstellung von einer eigenständigen kindlichen Lebensphase mit eigenen Charakteristika und Bedürfnissen, die der Lebensphase des erwachsenen Menschen durchaus ebenbürtig und in so mancher Hinsicht auch überlegen ist, wurde durch die Philosophie und Pädagogik J.J.Rousseaus ausformuliert. Die nachfolgende Pädagogik und Literatur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts ist ganz wesentlich von dieser Entwicklung durchdrungen.
Freilich war das neue "Zeitalter der Unschuld" zunächst noch ein vergleichsweise elitäres Privileg, da es sich - wie schon eingangs betont - ja um das Bürgerkind handelte. Wenn wir bedenken, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert in England und zeitversetzt im 19. Jahrhundert auch in Kontinentaleuropa die Industrielle Revolution einsetzte, in dessen Rahmen Unterschicht-Kinder als Arbeitskräfte ausgebeutet wurden, so ist der elitäre Charakter des "Age of Innocence" unmittelbar einsichtig. Aber parallel zu dieser Entwicklung wuchs auch die bürgerliche Mittelschicht im Lauf des 19. Jahrhunderts sehr rasch an und das bürgerliche Kindheitsideal erlangte sukzessive immer weitere Verbreitung und Popularität. Im viktorianischen Zeitalter erlangte es eine absolute Blüte und war bestimmender Faktor für die Kultur und Kunstproduktion von der Literatur Charles Dickens über die viktorianische Malerei etwa der Präraffaeliten bis hin zu populären Massenkulturgütern wie Grußkarten mit Darstellungen von Engels- oder Elfenkindern. Und freilich schlug sich diese Entwicklung auch auf die neue Kunstform der Fotografie nieder. Lewis Carrolls Kinderbilder trafen also durchaus den viktorianischen Zeitgeschmack.
Lewis Carroll: "Alice Liddell als Bettlermädchen" (Fotografie, 1858)

Aber durch die Ausbreitung und Popularisierung der einst noch elitär-bürgerlichen Idee vom "unschuldigen Kind" unterlag die Idee selbst gleichzeitig einer "Inflation", also einer zunehmenden Veroberflächlichung und inhaltlichen Entkoppelung von ihren eigentlichen Wurzeln. Die einst idealistische Konzeption vom "unschuldigen Kind" wurde standardisiert, materialisiert und kommerzialisiert. Symptomatisch für diese Entwicklung ist etwa der Umgang mit J.E.Millais' Kunstwerk "Cherry Ripe" zu sehen.
John E.Millais: "Cherry Ripe" (Ölmalerei, 1879)
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Eine große Firma kaufte die Rechte an dem Bild und verwendete es u.a. für Werbezwecke und für Kalenderillustrationen. Moderne Reproduktionsverfahren machten es möglich, dass schon bald nach der Fertigstellung des Bildes innerhalb weniger Tage hunderttausende Kopien verkauft wurden. Das "unschuldige Kind" speiste nun den sich neu etablierenden Massenmarkt.
Die bürgerliche idealistische Konzeption von Kind und Kindheit ist freilich auch im 20. und 21. Jahrhundert keinesfalls tot. Aber sie wurde weiterhin vielfach veroberflächlicht, materialisiert, pervertiert ...
Und wir müssen schließlich fragen:
Kindheit, wohin gehst du?
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Buchempfehlung:
Higonnet, Anne: Pictures of Innocence. The History and Crisis of Ideal Childhood. London 1998