Falsche Erinnerungen: Wie uns das Gedächtnis täuscht
Verfasst: 02.04.2021, 08:20
Gerade in der Debatte um sexuellen Missbrauch und Verjährungsfristen ein nicht zu unterschätzendes Thema, dass schon länger bekannt ist, aber wohl offensichtlich mit Absicht ausgeblendet wird.
Welt der Wunder hat geschrieben: 17.01.2021
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Wer glaubt, unser Gedächtnis zeichne unser Leben eins zu eins wie eine Kamera auf, der hat sich getäuscht. Nicht nur, dass wir vieles vergessen – das Gehirn erfindet auch Neues hinzu. Wo Wissenslücken klaffen, ergänzt es Erinnerungen. Und diese sind oft gar nicht unsere eigenen, sondern stammen stattdessen zum Beispiel aus Erzählungen, Fotos oder Filmen.
Wie leicht dieser Mechanismus zu aktivieren ist, hat die amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus gezeigt. In einem Experiment wollte sie Versuchspersonen weismachen, sie seien als Kind in einem Kaufhaus verloren gegangen – obwohl dies tatsächlich niemals der Fall war. Ein vorher eingeweihtes Familienmitglied erzählte den Probanden, sie hätten sich damals verlaufen und seien von einer älteren Dame zurückgebracht worden. 29 Prozent der Testpersonen glaubten anschließend wirklich, dies als Kind erlebt zu haben.
Das Gehirn siebt aus
Solche "False Memories", also falsche Erinnerungen, sind kein psychisches Problem, sondern ein völlig alltägliches Phänomen. Müsste sich unser Gehirn alles merken, was wir täglich erleben, wäre es bald überlastet. Deshalb merkt es sich gewissermaßen nur das Gröbste – was mal mehr, mal weniger weit von der Realität entfernt sein kann.
Bereits in den fünfziger Jahren machte der amerikanische Psychologe James Deese eine interessante Entdeckung: Er legte Versuchspersonen eine Liste mit Begriffen vor, die sie auswendig lernen sollten. Diese Liste enthielt Begriffe wie Stechen, Spritze oder Injektion, nicht aber das Wort Nadel. Dennoch gaben die Probanden später an, auch dieses Wort auf der Liste gesehen zu haben. Offensichtlich, so stellte Deese fest, neigt unser Gedächtnis dazu, Wissenslücken durch scheinbar logische Ergänzungen aufzufüllen. Auf diese Weise entstehen "False Memories": Obwohl ein Ereignis nie stattgefunden hat, scheint es rückblickend so, als ob wir es erlebt hätten – weil es logisch in unseren Erinnerungskontext passt.
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Besonders problematisch sind falsche Erinnerungen, wenn es um Zeugenaussagen geht. Immer wieder werden Fälle bekannt, dass Verbrechensopfer bei Gegenüberstellungen Unschuldige als Täter identifiziert haben. Die Betroffenen sehen einen Menschen, der dem Täter ähnlich sieht und sind sich plötzlich sicher, dass er es war. Ihr Gehirn hat einige Basisinformationen gespeichert, zum Beispiel: Der Täter war groß, dunkelhaarig und trug einen Bart. Bei einer Gegenüberstellung werden diese originalen, oftmals jedoch schwammigen Erinnerungen mit neuen Informationen vermischt. Das Gedächtnis setzt sie wie Puzzleteile zu einem vollständigen Bild zusammen, das mit der Wahrheit oft nur noch wenig zu tun hat.
Neun Jahre unschuldig im Gefängnis
Auf diese Weise werden immer wieder Unschuldige verurteilt, wie etwa im Fall des Amerikaners Kirk Bloodsworth. Dieser saß neun Jahre lang unschuldig im Gefängnis, weil Augenzeugen ihn als den Mörder eines kleinen Mädchens erkannt haben wollten. Erst eine DNA-Analyse ergab, dass Bloodsworth unschuldig war.
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Viele Menschen verdrängen schlimme Erlebnisse, etwa einen Missbrauch in der Kindheit. Das liegt daran, dass Stresshormone in einem solchen Fall die Rezeptoren im Gehirn lahmlegen, die für die Übermittlung von Informationen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis verantwortlich sind. Mittels Psychoanalyse oder Hypnose haben Betroffene allerdings später die Möglichkeit, auf die verschüttete Erinnerung zurückzugreifen.
Erfinden statt Erinnern
Allerdings bergen solche Methoden auch Risiken. Denn es kann passieren, dass ein Patient sich an einen Missbrauch zu erinnern glaubt, der nie stattgefunden hat. Fehlinterpretationen beispielsweise von Träumen oder Suggestivfragen während einer Therapie könnten so etwas bewirken, warnen Gegner solcher Verfahren. Die US-Psychologin Elizabeth Loftus, die in ihren Experimenten immer wieder die Kraft falscher Erinnerungen belegt, setzt sich deshalb aktiv für Beschuldigte ein.
Die Experimente von Elizabeth Loftus und ihrer Kollegen zeigen: Es ist durchaus möglich, die Erinnerungen anderer Menschen zu manipulieren. Mit einfachen Mitteln wie Fotos, Filmen oder glaubhaften Erzählungen kann man nahezu jedem falsche Erinnerungen einpflanzen. Jedoch: Dies funktioniert nur begrenzt. Die neuen Informationen müssen in einen bereits vorhandenen Kontext passen, damit das Gehirn Verknüpfungen erstellen kann. Meist sind es nämlich Details, an die wir uns nicht mehr erinnern können; eine zentrale Idee oder ein grober Eindruck bleiben. Wissenschaftler hoffen trotzdem, dass sie mit diesen Erkenntnissen in Zukunft besser gegen Demenzerkrankungen vorgehen können.
Am besten und umfangreichsten können wir unsere eigene Erinnerung gestalten und zwar positiv. Unser Gedächtnis behält nämlich angenehme Eindrücke eher in Erinnerung, wohingegen negative leichter verblassen. Ein sehr wirkungsvoller Mechanismus, auf den auch in Psychotherapien zurückgegriffen wird: Der Patient lernt, die eigene Vergangenheit mit mehr positiven Attributen zu besetzen, indem er sich an schöne Erlebnisse erinnert. Negative Erinnerungen geraten dann leichter ins Vergessen. So können wir uns die Strategien unseres Gehirns ganz bewusst zunutze machen.
Wikipedia hat geschrieben:Bedeutung in Gerichtsverfahren
Bei Aussagen vor Gericht hat die Prüfung von Erinnerungen auf mögliche Selbsttäuschungen der Aussagenden eine große Bedeutung. Nach Oskar Berndt Scholz und Johann Endres gilt es hier u. a. zu unterscheiden zwischen Pseudoerinnerungen, die durch Manipulation in früheren Befragungen entstehen, und Falschinformationseffekten, die durch Manipulation in gegenwärtigen Befragungen entstehen. Diese Unterscheidung sei wichtig, weil im Falle einer Pseudoerinnerung die gegenwärtige Befragung ohne Manipulation ablaufe und daher frühere manipulative Implantationen von falschen Erinnerungen vor Gericht leicht verborgen bleiben könnten.[30]
Oft stehen Augenzeugen unter enormem Stress, selbst wenn sie nicht Opfer einer kriminellen Tat wurden. Ihre emotionalen Erinnerungen sind sehr leicht beeinflussbar. So können sie unter anderem durch andere Augenzeugenberichte, durch (suggestive) Fragen von Beamten oder durch Medienberichte verfälscht werden.[6][31] Es konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass die Negation von Sachverhalten paradoxe Effekte haben kann, die möglicherweise den Zuhörer dazu veranlassen zu glauben, dass die negierten Dinge tatsächlich existierten. Wenn z. B. ein Zeuge hört, dass etwas nicht stattgefunden hat, kann er sich nach einiger Zeit fälschlicherweise daran erinnern, dass es tatsächlich stattgefunden hat.[32]
Der Fall Kenneth Olson
Der Psychiater Kenneth C. Olson behandelte seit 1986 über mehrere Jahre die 33-jährige Hilfsbetreuerin Nadean Cool. Während der Behandlung u. a. mit Hypnose und Teufelsaustreibung erinnerte sich die Patientin, sie sei an satanischen Kulten beteiligt gewesen, habe Säuglinge verspeist, sei vergewaltigt worden, habe Geschlechtsverkehr mit Tieren gehabt und sei gezwungen worden, den Mord an ihrer achtjährigen Freundin mitanzusehen. Sie glaubte, mehr als 120 Persönlichkeiten zu haben – solche von Kindern, Erwachsenen, Engeln und auch einer Ente.
Als Nadean Cool später klar wurde, dass man ihr falsche Erinnerungen implantiert hatte, ging sie gerichtlich gegen den Psychiater vor und erhielt 1997 nach fünfwöchiger Prozessdauer in einem außergerichtlichen Vergleich 2,4 Millionen US-Dollar als Schadensersatz.[33][34]
Der Fall Västerås
In der Folge einer Psychotherapie zeigte eine Frau (Ende 20) in Västerås (Mittelschweden) ihren Vater an, er habe sie, als sie 9–16 Jahre alt war, mehr als 200-mal vergewaltigt und gefoltert. Obwohl es außer der Erinnerung der Frau keinerlei sonstige Beweise (Zeugenaussagen, technische Beweise, medizinische Indizien) gab, wurde der Vater 2002 zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. 2003 wurde das Urteil in zweiter Instanz bestätigt. Hierbei bezeichnete das Gericht die Auffassung der Verteidigung, es handele sich bei den Anschuldigungen um in der Psychotherapie implantierte falsche Erinnerungen, als eine „absurde Theorie“. Nach mehr als neun Jahren im Gefängnis wurde der Mann 2012 nach zwei Dritteln der vierzehnjährigen Haftstrafe auf Bewährung entlassen.
In der Zwischenzeit begab sich die Tochter erneut in Psychotherapie und zeigte in deren Folge im Jahr 2007 weitere Erinnerungen an schwere Verbrechen an. Sie sei auch Opfer eines großen pädophilen Netzwerks gewesen. Zu den Tätern zählten namentlich genannte Chefs in Polizei und Wirtschaft. Die nachfolgenden Ermittlungen ergaben keine Hinweise, dass die neuen Anschuldigungen wahr sein könnten. Da sie jedoch den alten Anschuldigungen gegen den Vater sehr ähnlich waren und auch in Folge einer Psychotherapie vorgebracht wurden, wurde der alte Fall von 2002 vor das Oberste Gericht von Schweden (Högsta domstolen) gebracht. Dieses hob am 24. Mai 2013 die bisherigen Urteile auf und verwies den Fall zur Neuaufnahme an die zweite Instanz zurück. Diese sprach den Vater am 25. April 2014 in allen Punkten frei. Damit war seine Gefängnishaft die längste, die ein fälschlich Verurteilter je in moderner Zeit in Schweden absitzen musste. Sein Anwalt reichte am 7. November 2014 eine Schadensersatzforderung von 19 Millionen Kronen (ca. 2,06 Millionen Euro) ein[35][36] und am 29. Juni 2015 wurde dem Vater eine Entschädigung von 12,6 Millionen Kronen (1,4 Millionen Euro) zugesprochen, die höchste jemals in Schweden festgesetzte Entschädigungssumme für einen fälschlich Verurteilten.[37]