Lord Vana hat geschrieben:Danke Humbert für den Hinweis. Ich glaube von dem Buch schonmal etwas gehört oder gelesen zu haben und denke eher es gehört in die Ecke der Lebensschicksale und nicht in unseren Bereich. Obwohl sich manch einer daran ergötzen oder / und befriedigen kann.
Wenn sich jemand an den grausamen und ausführlichen Schilderungen von Kindesmissbrauch ergötzen oder gar befriedigen kann, dann finde ich das schon ziemlich verwerflich und wäre für mich genauso verachtenswert und auf die gleiche Stufe zu stellen wie jemand, der Kinderpornografie konsumiert.
Wenn es ein Buch aus der Belletristik gibt, mit dem man sich durchaus identifizieren kann, dann kann ich nur folgendes Werk empfehlen, welches ich auch schon ausführlich im alten GLF vorgestellt hatte:
Hilflos von Barbara Gowdy
?Die neunjährige Rachel ist ein auffallend schönes und aufgewecktes Mädchen, das alle Blicke auf sich zieht. Blicke, die ihre Mutter Celia beunruhigen. Rachel weiß das und verheimlicht, dass da ein Mann in einem weißen Lieferwagen vor ihrem Haus parkt, derselbe, den sie schon vor ihrer Schule bemerkt hat. Was ist das für ein Mann, der einen Reparaturdienst für Haushaltsgeräte hat, alte Staubsauger sammelt und vom Auto aus kleine Mädchen beobachtet? Der einsam und sensibel ist und plötzlich von einer so heftigen Liebe zu einem Kind ergriffen wird, dass er es für sich haben will? Ein Monster?
Von der Liebe erzählt Barbara Gowdy in ihrem neuen Roman und von der Hilflosigkeit, Schutz zu bieten in einer Welt, in der die Sicherheiten verloren gegangen sind. Die mit großer Spannung und Empathie erzählte Geschichte einer Entführung, literarisch so gekonnt, dass die Koinzidenz mit dem wirklichen Leben wie eine gespenstische Nacherfindung erscheint. ?
(Verlagstext)
Seit Tagen schon beobachtet Ron von seinem Lieferwagen aus die neunjährige Rachel. In seinem Haus hat er bereits ein Kinderzimmer für sie vorbereitet, mit Puppenstube, Flokati und Fernseher. Er wartet nur auf die passende Gelegenheit. Als es dann zu einem lokalen Stromausfall kommt, wittert Ron seine Chance. Der Alptraum aller Eltern beginnt: Rachel wird entführt.
Allerdings ist Ron kein krimi-üblicher Psychopath. Zwar liebt er die kleine Rachel abgöttisch, hadert aber mit seinem Wunsch, sich ihr auch körperlich zu nähern. Dem kleinen Mädchen erzählt er, er würde sie vor Fängern verstecken, die sie nach Afrika schicken wollen. Das Mädchen ist skeptisch, arrangiert sich aber mit dieser Information, zumal es ihr bei Ron gut geht und sie tun darf, was sie will.
Rons Freundin Nancy hätte gern ein eigenes Kind. Weil dies nicht möglich ist, nimmt sie sich der kleinen Rachel an. Und je klarer ihr wird, dass Rons Gefühle dem Mädchen gegenüber nicht nur väterlicher Natur sind, desto deutlicher stellt sie sich zwischen ihn und Rachel.
Inzwischen beginnt die Polizei auf Hochtouren, nach Rachel zu suchen.
Akribisch beschreibt Barbara Gowdy die Abläufe, die sie selbst ausführlich recherchiert hat. Und sie zeigt das Dilemma, in dem sich Rachels allein erziehende Mutter Celia befindet: neben die Selbstzweifel kommen die Fragen, die ihr die Umgebung stellt. Warum war Rachel zu der späten Stunde überhaupt allein draußen? Wo war die Mutter? Hätte sie das Verschwinden verhindern können?
Die Spannung, die der Roman aufbaut, ist subtil, nicht bis ins letzte ausgereizt. Zum einen, weil Ron eben nicht der blutrünstige Psychopath ist, der nur darauf wartet, sein Opfer zu zerstückeln. Er kämpft seinen moralischen Kampf mit seinen eigenen Sehnsüchten, und wir als Leser bleiben bis zum Schluss gespannt, ob er seinem Verlangen Herr bleiben kann oder nicht.
Damit bricht Gowdy mit den Lesegewohnheiten der vergangenen Krimijahre, in denen der voyeuristisch orientierte Leser in den Gräueltaten der Bösewichte weiden konnte. Einige Rezensenten der Printmedien (online sind derzeit kaum Kritiken verfügbar) werfen dies dem Roman vor. Er hätte durch den unentschlossenen Hauptcharakter sein Potential verschenkt. Andererseits eröffnet der Stil Gowdys allerdings einer neuen Leserschicht den Zugang: denen nämlich, die mit dem Hardcore-Gemetzel ohnehin nichts anfangen können. So wird der Roman auch von Rezensentinnen hofiert, die sich als bekennende Krimigegnerinnen bezeichnen. So etwa Elke Heidenreich in der März-Ausgabe von Lesen! im ZDF.
Schon früher hat sich Barbara Gowdy mit Nekrophilie und anderen seltsamen Neigungen beschäftigt, jedoch immer mit einem empathischen Blick auf die Personen. Monster und Psychopathen interessieren sie nicht. Dementsprechend ist auch Ron trotz seiner Leidenschaft für Rachel kein Stereotyp des Bösen. Bücher über Psychopathen gab es in der Vergangenheit genug, ihr Seelenleben ist hinreichend ausgeleuchtet, sagt sie in einem Interview. Fiktion sei für sie nur dann interessant, wenn die Handelnden in einem ethischen Konflikt stehen.
Warum ruft Schönheit überhaupt so oft den Wunsch hervor, sie zu zerstören? Nie zuvor in der Geschichte wurden kleine Mädchen so stark sexualisiert wie heute und nie wurde ihre sexuelle Anziehungskraft derart verteufelt, meint Gowdy in oben zitiertem Interview. Sie habe das Buch geschrieben, um zu begreifen, was im Kopf eines Menschen passiert, der ein derartiges Verlangen verspürt. Die einzige Art, dies zu können, sei die Fiktionalisierung.
[Quelle: "Shakespeare and more: Neuerscheinungen und Rezensionen"]