Hallo zusammen,
nach reiflicher Überlegung kommt nun auch meine Abstimmung. Auch wenn ich meinen Sieger zuletzt erwähnen werde, bedeutet das nicht, dass ich mich "von unten nach oben" arbeite, denn es gibt ein sehr breites Mittelfeld, in dem die Qualitätsunterschiede gering sind und wo ich ein Problem hätte, eine Reihenfolge auszumachen.
Für die eigene Geschichte habe ich nicht gestimmt. Sowas tut man nicht :p
Die Basefan-Texte lohnen keine ausführliche Besprechung.
Gleich mehrere Geschichten kamen von Denker und Tropi. Denkers drei Geschichten haben eines gemeinsam: Sie halten sich eng an den Plot von Pädo-Phantasien. Die Einzelheiten des Rahmens werden ausführlich ausgearbeitet, so dass eine Phantasiewelt entsteht, die manchem hier bekannt vorkommen dürfte.
"Erfahrungen im Schnee" ist von den dreien die schwächste. Da weiß man sofort was kommt - und auch, dass es im legalen Rahmen bleiben wird

Sie ist zielstrebig auf die Phantasienacht im Auto hin erzählt ohne Wendung und Spannungsmoment. Nicht einmal die latente Gefahr der Naturgewalt bekommt eine Chance, die Geschichte spannend zu machen.
In "Der Morgen danach" gibt es eine Wendung - alles war nur ein Traum. Ich habe den Eindruck, Du warst dir der fehlenden Spannung und einseitigen Phantasie-Orientierung bewusst und hast noch eine Geschichte mit einer Überraschung in der erzählten Realität nachgelegt: Bis auf die letzten Zeilen ist es wieder eine angenehme Phantasiegeschichte, die dem Leser nichts abfordert, sondern Erwartungen bedient. Die werden dann durchkreuzt. Da bricht die Geschichte ab. Welche Funktion das Überraschungsmoment hat, außer den Leser zu verblüffen, bleibt offen. Darauf gibt es keine Hinweise im Text und es gibt keinen Spannungsbogen über die harmlose Pädophantasie hinaus.
Ganz anders die Geschichten von Tropi: In beiden werden Befürchtungen reflektiert. "Das Traumwesen" ist eine anti-Utopie, in der eine Welt vorgestellt wird, die hoffentlich so nicht real wird. Sie gehört zu den Texten, die den Leser potenziell aktivieren, über die Richtung nachzudenken in die unsere Zivilisation sich entwickelt. Rein textlich gesehen ist die Geschichte abgeschlossen und lässt keine Fragen offen. Man bekommt ein fertiges Bild.
"Auf Abwegen" drückt die Befürchtungen aus, die sich auf unsere jetzige Welt beziehen. Sie geht dem Leser näher und verrät etwas über die Verbitterung über das Jetzt. Auch hier wird an einem abgeschlossenen Kapitel beispielhaft vorgestellt, wie es jetzt schon sein könnte. Beide Geschichten setzen ein Nachdenken in Gang, sie sind argumentativ und politisch wirksam, und der ästhetische Aspekt tritt dem gegenüber in den Hintergrund.
"Spaß zu dritt, zu zweit und allein..." von Sus hat mich wie wohl jeden Leser hier beeindruckt. Es ist eine brutale Phantasie, in der sich zwei Mädchen an einem Therapeuten rächen, vermutlich weil der ihre Beziehung zu einem Liebhaber zerstört hat. Dieses Motiv ist jedoch undeutlich - der Fokus wird auf die Handlung und nicht auf die Ursache gelegt. Der Leser arbeitet an der Frage, wie es dazu kam, auch wenn ihm eine Lösung nahe gelegt wird. Auch literarisch kann sich die Geschichte sehen lassen, denn sie entwirft die Figuren als Akteue, die man sich lebhaft vorstellen kann. Es ist insgesamt eine Phantasiegeschichte, und zwar eine gute. Hier habe ich zum ersten Mal in diesem Wettbewerb ernshaft eine Abstimmung erwogen. Letztlich bleibt es jedoch die Bedienung einer Phantasie, ohne als literarischer Text den Leser besonders anzurühren.
Nun zu meinen Abstimmungsrängen:
Kafkas "Das Paradies" erschafft in einem Innenhof eine surreale Bühne auf der die Vertreibung aus dem Paradies neu aufgeführt wird. Der Herrgott mit dem Teppichklopfer und andere Motive zeugen von einem hintergründigen Humor, der die Handlung trotzdem nie in oberflächliche Komik abgleiten lässt. Beim Lesen wird schnell klar, dass der biblische Mythos hier Pate stand, aber die Umsetzung lässt genug Raum für originelle Überraschungen und mehrdeutige Bezüge zum Urtext. Zudem ist die Örtlichkeit gekonnt beschrieben und erzeugt eine charakteristische Atmosphäre, die den banalen Ort, den Innenhof eines Plattenbaus, zu etwas Besonderem macht.
Viel zu wenig beachtet wurde Sairens "Die Osterglocke"!
Die Erzählung beginnt mit einem poetischen Bild, das Tragik ahnen lässt. Das einzige im Text wieder erscheinende Element daraus ist der Frühling, in dem die Handlung stattfindet. Da haben sich ein Mann, der Ich-Erzähler, aus dem fernen Frankfurt und eine junge Frau verabredet. Sie kennen sich schon länger aus der Zeit bevor der Mann umgezogen ist. Viele Einzelheiten greifen die Tragik der Einleitung wieder auf, das Treffen ist kein frohes Wiedersehen, man weiß gar nicht, warum beide sich überhaupt verabredet haben. Was den Mann zu der Frau zieht und sie an ihn bindet ist nur noch schwach ausgeprägt, kaum mehr als Erinnerung und wird überlagert von vielen zwischenzeitlich erfolgten Veränderungen. Die Einzelheiten der Szene sind banal, aber mehrdeutig und fordern den Leser zur Einordnung oder zur Akzeptanz ihrer Anbiguität heraus. Dabei werden sie nie beliebig und funktionslos. Gegen Schluss der Erzählung erweitert sich der Rahmen als zoome die Kamera aus der Szene heraus und eröffne den Blick auf ein erschütterndes Drama, in dem äußerlich nicht viel geschehen ist, aber das Vergeblichkeit und Zerstörung zurückließ. Nicht einmal der Ich-Erzähler handelt konsistent mit sich selbst. Am Ende belügt er die Frau über ein mögliches Wiedersehen und ist eher erleichtert, dass dieses Treffen vorbei ist.
Diese Erzählung lässt ein literarisches Können vermuten, dass Sairen unbedingt ausbauen sollte. Man merkt an einigen Flüchtigkeiten, dass sie schnell geschrieben wurde und aus einem Guss ist. Es genügen wenige redaktionelle Anpassungen, damit sie gedruckt in einer Anthologie erscheinen könnte.
Eine Geschichte, die man nicht so schnell vergessen kann!
Sakura