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Bruno
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Frank Wedekind: Lulu - Die Kindfrau als Femme fatale

Beitrag von Bruno »

Frank Wedekind: Lulu - Die Kindfrau als Femme fatale
Ist Lulu ein "Naturwesen"? oder: Was ist die menschliche Natur?


In eben jenen 1890er Jahren, in denen u.a. Lewis Carroll in seinem Spätwerk (Sylvie und Bruno) das romantisch-viktorianische Kindheitsbild zu einer elaborierten Darstellung gebracht hat, ist in Deutschland Frank Wedekinds Monstertragödie "Lulu" entstanden, die - als ausgesprochene literarische Novität - die Kindfrau als Femme Fatale thematisiert. Einstweilen freilich nur auf dem Papier, denn die Zensur im Wilhelminischen Zeitalter verhinderte bis ins 20. Jahrhundert hinein eine (vollständige) Veröffentlichung und Aufführung. Der alternative Titel "Der Erdgeist", unter dem zunächst ein Teil der Lulu-Tragödie veröffentlicht wurde, drückt bereits treffend aus, was Wedekind im Mädchen Lulu sehen will, das im Prolog von einem Tierbändiger (!) als "das wahre, wilde und schöne Tier" bezeichnet wird.

Ihre Kindheit verbringt Lulu auf der Straße mit ihrem angeblichen Vater, dem Kleinkriminellen Schigolch. Ab welchem Alter sie sich als Prostituierte betätigt, erfährt man nicht genau, Schigolch behauptet jedenfalls, dass sie "es getan hätte, bevor sie etwas gefühlt hat" und "mit zehn Jahren bereits Vater und Mutter ernähren hätte können", worauf Lulu ihm lediglich entgegnet "Du hast es versoffen".
Der reiche Verleger Dr.Schön ist es schließlich, der die Lulu so etwa im Alter von 12 oder 13 Jahren - man erfährt nur, dass sie damals "fast noch ein Kind" war - von der Straße wegholt, zu sich aufnimmt und erzieht. Schön macht Lulu zu seiner Geliebten, verheiratet sie aber schließlich im Alter von etwa 17 Jahren mit seinem Freund Dr. Goll, um selbst eine Dame ebenbürtigen Standes ehelichen zu können.
Goll ist Lulus erstes Opfer, ihn trifft der Schlag, als er seine Frau beim Portraitmaler Schwarz in flagranti erwischt. Schwarz, Lulus zweiter Gatte, schneidet sich die Kehle durch, nachdem Schön - der Lulu noch immer liebt - ihm Lulus Vergangenheit offenbart hat. Als Schön, Lulus dritter Gatte, Lulu - die ihn mit Freunden betrügt - zum Selbstmord zwingen will, wird er von Lulu erschossen.
Lulu flieht nach Paris, heiratet dort den mit ihr geflohenen Sohn Schöns aus erster Ehe, Alwa, und führt mit ihrem geerbten Vermögen ein luxuriöses Leben. Sie entkommt den Fängen eines Mädchenhändlers, der sie in den Orient verkaufen will und flieht vor der Polizei weiter nach London, wo sie mit Alwa und Schigolch zusammen in ärmlichsten Verhältnissen haust und mit ihrem Einkommen als Prostituierte sich und den anderen das Überleben notdürftig sichern kann. Alwa wird von einem ihrer Kunden erschlagen, als er diesen anfällt. Lulu selbst wird schließlich von einem späteren Kunden getötet, der sich als Jack the Ripper entpuppt. Bei ihrem Tod ist Lulu knapp über 20 Jahre alt.

Die Kindfrau Lulu, der "Erdgeist" bzw. das "wahre, wilde und schöne Tier", das aus seiner "Natur" heraus die Männer um sich herum verführt, soll bei Wedekind also jene "Natürlichkeit" verkörpern, die - gerade weil sich Lulu selbst stets passiv und unreflektiert verhält - aufgrund ihrer Amoralität bzw. "natürlichen Moral" die bürgerliche Moral als deren Perversion und damit als Unmoral entlarven kann.
Hat Wedekind mit seiner literarischen Novität "Lulu" eine Kurskorrektur (mit)eingeleitet, die auf das 20.Jahrhundert - die Erkenntnisse Krafft-Ebings und Freuds über kindliche Sexualität mit einschließend - vorausweist und damit mit dem romantischen Bild vom unschuldigen, asexuellen Kind radikal aufgeräumt? Sagt Wedekind mit "Lulu" tatsächlich etwas Wahres über die "Natur" des Menschen aus und kann damit die vergangene klassisch-romantische Vorstellung von der "reinen, unschuldigen Natur des Kindes, die dem erwachsenen Menschen in ihrer Reinheit und noch vorhandenen Nähe am (göttlichen) Ursprung Vorbild sein kann" pauschal als radikalen Irrtum bzw. als Verlogenheit entlarven?
Eine ad hoc-Bejahung dieser Fragen könnte zwar diversen sexuellen "Emanzipations"-Bestrebungen dienlich sein, geht aber an der Wahrheit wohl vorbei. Die utopische und nur näherungsweise erreichbare Diktion Rousseaus, auf die sich die Autoren der Klassik und Romantik direkt oder indirekt in ihrem Kindheitsbild beriefen, besagt, dass kindliche Entwicklung als "natürliche Entfaltung" dann geschehen kann, wenn die Erzieher das Kind von störenden, negativen Einflüssen der Gesellschaft weitestmöglich abschirmen. Eine frühe Beeinflussung des Kindes durch die - bereits von der Natur entfernte - Gesellschaft unterbindet eine natürliche Entfaltung des Kindes.
Lulu, die ihre Kindheit ohne Erziehung und als gänzlich in die Gesellschaft hineingestelltes Wesen durchlebt hat, hat somit nicht die Möglichkeit einer natürlichen Entwicklung gehabt. Ist es dann legitim, Lulu als "Naturwesen" zu bezeichnen, wie Wedekind und so manche seiner Interpreten das tun? Wohl kaum.
Aber warum überhaupt dieses Herumreiten auf dem "Naturbegriff"?
Weil es für das Welt- und Menschenbild und die daraus resultierenden menschlichen Aktivitäten einfach nicht egal ist, was als die "Natur" des Menschen angesehen wird: Ob diese - entsprechend der klassisch-romantischen Vorstellung - als etwas Geistiges angesehen wird oder ob, wie bei Wedekind (und seinen "modernen" Zeitgenossen und Nacheiferern) der Mensch in seiner Natur bloß als eine seinen angeblichen natürlichen Trieben ausgelieferte Marionette angesehen wird.


Literatur:

Jenny, Urs / Redaktion Kindler Literatur Lexikon: Der Erdgeist. In: Kindlers Neues Literaturlexikon. Das 23-bändige Werk auf einer CD-ROM. München 2000.

Lavizzari, Alexandra: Lulu, Lolita und Alice. Das Leben berühmter Kindsmusen. Berlin 2005.

Seehaus, Günter: Frank Wedekind. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rowohlts Monographien). Reinbek bei Hamburg 1974.

Wedekind, Frank: Lulu. Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie. Urfassung von 1894 (Bibliothek Suhrkamp). Frankfurt am Main 1999.
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