Nun habe ich endlich Zeit gefunden, auf die Entgegnungen zu dem von mir dargestellten Bild von Lewis Carroll einzugehen.
Grundsätzlich ist vorweg unbedingt Folgendes festzuhalten:
Das tw. durchaus mysteriös anmutende Leben und Werk Lewis Carrolls eignete sich hervorragend dazu, von zahlreichen sehr unterschiedlichen Personen und Gruppierungen mit tw. ganz widersprüchlichen Ansichten, Zielen und Ideologien für deren Zwecke vereinnahmt zu werden. Psychoanalytiker versuchten z.B., anhand von Carroll ihre abstrusen Theorien über den angeblich durch den Sexualtrieb determinierten Menschen zu untermauern, die psychedelische Subkultur der 1960er Jahre behauptete, dass Carrolls Leben und Werk durch Drogenerfahrungen bestimmt sei, und manche Autoren - wie etwa D.Hofstadter in seinem berühmten Buch "Gödel, Escher, Bach" - sehen Carrolls Schaffen offenbar primär als Plädoyer für künstliche Intelligenz an. [Auch Vereinnahmungen Carrolls durch das populäre pseudo-philosophische Science-Fiction-Genre (z.B. die Carroll-Zitate in der "Matrix"-Filmtrilogie u.a.) gehen in diese Richtung.] Die Liste der mehr oder weniger absurden Carroll-Interpretationen wäre freilich noch erweiterbar. Dass die Phantasien zur mysteriös anmutenden Figur Lewis Carroll aber tatsächlich keine Grenzen zu kennen scheinen, ist spätestens durch das Buch von R.Wallace klargeworden, in dem der Autor "nachzuweisen" versucht, dass es sich bei Lewis Carroll in Wirklichkeit um niemanden anderen handle als um den berüchtigten Prostituiertenmörder "Jack the Ripper". (Ich will jetzt freilich nicht behaupten, dass ihn viele ernstgenommen haben.)
Jedenfalls sollten wir diese Aspekte im Auge behalten und aufpassen, dass wir nicht in ähnlich absurder Weise Lewis Carroll für unsere Zwecke vereinnahmen (welche auch immer das sind), sei es auch nur durch die unreflektierte Feier des konstruierten Pädo-Feiertages "Alice-Day".
Nun zu den Entgegnungen im Einzelnen:
Khenu Baal hat geschrieben:Ich zweifele keineswegs Deine Carroll-Kompetenz an, jedoch Deine Schlußfolgerungen aus einer mehr als dürftigen Quellenlage. Oder hast Du etwa einen Beleg dafür, daß es zwischen ihm und Alice, wenn sie allein waren, sowie bei den zahlreichen Fotoshootings nicht zu Dingen kam, die ihn sehr eindeutig als pädosexuell klassifizieren? Das sollte mich bei der Vernichtungswut seiner Familie mächtig überraschen

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naylee hat geschrieben:@Bruno:
Wie kommst du darauf, Carroll als Pädophil ohne Wunsch nach sexueller Interaktion zu bezeichnen? Woher weißt du das denn?[...]
Er hat seine Kinder geliebt, ihre Welt idealisiert und vergöttert. Für mich besteht da gar kein Zweifel. Möglicherweise hat er die Sexualität nie ausgelebt, aber der Wunsch danach wird schon bestanden haben.
Zur angesprochenen angeblichen "Vernichtungswut" bezüglich der Carroll-Primärquellen durch Carrolls Nachkommen wäre festzuhalten, dass es keinesfalls bewiesen ist, dass die Unvollständigkeit von Carrolls Tagebuch-Bänden auf bewusste Beseitigung einzelner Bände zurückzuführen sei. Als mindestens ebenso wahrscheinlich muss die triviale Tatsache gelten, dass diese einfach durch achtlosen Umgang verloren gegangen sind. Dass die einzelnen - insgesamt jedoch sehr wenigen - fehlenden Seiten in den vorhandenen Tagebuch-Bänden im Nachhinein von Carrolls Nachkommen bewusst entfernt wurden, ist hingegen naheliegender (wenngleich auch nicht bewiesen). Zu Spekulationen hat insbesondere das in der Ursache ungeklärte Zerwürfnis Carrolls mit der Familie Liddell (den Eltern von Alice Liddell) ein Jahr nachdem Carroll für Alice die "Alice-Geschichte" erfand, Anlass gegeben und die Tatsache, das ausgerechnet jene Tagebuchseite, die vermutlich darüber Auskunft geben könnte (vom 27.6.1853), eine jener Fehlseiten ist.
Manche Carroll-Biographen vermuteten z.B., dass Carroll einen Heiratsantrag an die damals 11-jährige Alice Liddell gemacht oder seine Zuneigung zu ihr den Eltern zu offen zur Schau gestellt haben könnte. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass Heiratsabsichten an sehr junge Mädchen damals grundsätzlich keine große Seltenheit waren und das heiratsfähige Alter der Mädchen offiziell bei 12 Jahren lag. [Carrolls jüngerer Bruder Wilfried z.B. verliebte sich im Alter von knapp 30 Jahren in ein 14-jähriges Mädchen und wartete nur deswegen noch einige Jahre mit der Heirat, da seine finanzielle Grundlage noch sicherer werden musste.] Wenn also Carroll - wie einige Biographen mutmaßten - den Dekan Mr. Liddell um Erlaubnis gebeten hätte, seine Tochter Alice zu heiraten, so wäre das grundsätzlich kein sehr ungewöhnlicher Vorgang gewesen. Durch die Erklärung der Heiratsabsicht der fast schon 12-jährigen Alice oder auch durch äußere Anzeichen des Verliebtseins hätte sich Carroll keinesfalls zwingend als pädophil geoutet. (bzw. auch nicht als jemand mit anderen oder sonderbaren sexuellen Vorlieben oder dgl., den Begriff "pädophil" gab es ja ohnehin noch nicht) Und dass eine zu starke Annäherung an Alice oder gar pädosexuelle Handlungen Carrolls der Grund für das Zerwürfnis mit der Familie Liddell gewesen sein könnten, ist reinste Spekulation, durch nichts bewiesen und aufgrund sämtlicher vorhandener Quellen als unwahrscheinlich einzustufen. Anzunehmen ist hingegen, dass der Dekan vermutlich aufgrund der Kluft im sozialen Status zwischen seiner Familie und Carroll dessen Bitte, seine Tochter zu ehelichen, nicht akzeptieren hätte können, was die Verstimmung zwischen der Liddell-Familie und Carroll ausgelöst haben könnte.
Nach heutigem Wissenstand gilt aber generell der Zusammenhang zwischen dem Zerwürfnis mit der Familie Liddell und Carrolls Beziehung zu Alice eher als unwahrscheinlich. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Mrs. Liddell (die das Leben und die Zukunft ihrer Töchter in recht autoritärer Weise weitgehend selbst bestimmen wollte) sich Sorgen um etwaige Klatschgeschichten im Zusammenhang mit Carrolls häufigem Umgang mit ihren Töchtern machte, da die älteste (Lorina) nun mit 14 Jahren gerade KEIN Kind mehr war. Carroll, der bekanntlich recht schnell beleidigt reagierte, wird ev. durch seine Reaktion die Kontroverse verschärft haben.
Vermutlich hat also das Zerwürfnis mit der Familie Liddell weitaus unspektakulärere Gründe als manche Interpreten und Spekulanten sich zusammenreimen wollten bzw. immer noch wollen.
Was Carrolls 25 Jahre lang intensiv praktizierte Fotografie von kleinen Mädchen - in tw. aufwändigen Kostümen und auch nackt - betrifft, so ist festzuhalten, dass diese (auch die Nacktfotografien) durchaus im Trend der Zeit lagen. Darstellungen nackter Kinder - v.a. kleiner nackter Mädchen ("in natürlicher Unschuld") - waren in der viktorianischen Kunst sehr beliebt. (z.B. bei den Präraffaeliten oder bei Fotografen wie O.G.Rejlander und J.M.Cameron, auch auf populären Grußkarten u.a.)
Gleichzeitig ist aus dem Briefverkehr zwischen Carroll und Eltern der von ihm fotografierten Kinder bekannt, dass es in einigen Fällen auch Kontroversen zwischen Carroll und den Eltern der Kinder aufgrund unterschiedlicher künstlerischer und moralischer Auffassungen gab. Dass Carroll jedoch offensichtlich stets das Einverständnis der Eltern einholte, wenn er Nacktaufnahmen von den Mädchen machte, ist aufgrund des umfangreichen erhaltenen Briefwechsels offenkundig. Und dass es im Zusammenhang mit Carrolls Mädchenfotographie pädosexuelle Aktivitäten gegeben haben könnte, ist durch nichts belegbar und auch nicht anzunehmen. Wie aus zahlreichen Briefwechseln ersichtlich, lud Carroll auch die Eltern der Kinder, wenn sie dabeisein wollten, zu den Fototerminen mit den Mädchen ein. Und bei vielen Fototerminen war auch die mit Carroll befreundete Malerin G.Thomson mit anwesend (die selbst zahlreiche Bilder von nackten Kindern malte).
Es bleibt festzuhalten:
Die Annahme, dass Carrolls Leben durch pädosexuelle Aktivitäten oder auch nur dem Wunsch nach diesen geprägt war, ist - ebenso wie andere abstruse (tw. oben aufgelistete) Carroll-Interpretationen, die dem Selbstverständnis bestimmter Einzelpersonen oder "Lobbies" entsprungen sind - reine Spekulation ohne reales Fundament.
So manche Carroll-Interpreten wollen bei Carroll nicht nur unbedingt Dinge sehen, die in seinem Leben höchstwahrscheinlich überhaupt keine oder zumindest keine wesentliche Bedeutung hatten (wie z.B.Pädosexualität) sondern sie wollen oder können auch jene Dinge NICHT sehen, die in Carrolls Leben - und hier im Zusammenhang mit seinen Mädchenbeziehungen - ganz offensichtlich eine ESSENZIELLE Bedeutung hatten: Nämlich die - aus Carrolls Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, literarischem Werk und anderen Quellen herauslesbare - Tatsache, dass die Attraktivität des kleinen Mädchens bei Carroll ganz offensichtlich UNTRENNBAR an sein religiös-spirituelles Weltbild gebunden war und unmittelbar an das romantische Bild vom unschuldigen-gottnahen Kind anknüpfte. Das noch unverbildete, authentische Kind war für Carroll - ebenso wie für die Romantiker - ein Spiegel der eigenen, verlorenen Vergangenheit, dessen Konfrontation für den erwachsenen Menschen im religiösen Sinne heilbringend wirken konnte, da es diesen auf dem Weg in eine zweite höhere (wiedergewonnene) Kindheit führen kann.
Eine der zahlreichen einschlägigen Formulierungen Carrolls lautet beispielsweise folgendermaßen: "I have been largely privileged in t?te-?-t?te intercourse with children. It is very healthy and helpful to one's own spiritual life: and humbling too, to come into contact with souls so much purer, and nearer to God, than one feels oneself to be".
Nur wer sich mit diesen Kernelementen in Carrolls Leben und Werk identifizieren kann (und nicht mit einer in Carrolls Leben künstlich hineinkonstruierten und übergewichteten Pädosexualität), der kann - wenn er möchte - berechtigterweise den "Alice-Day" feiern.
Letzteres ist freilich nur meine persönliche Meinung.
naylee hat geschrieben:Übrigens: ein ganz schönes Buch, die Beziehung von Kindern zu Künstlern betreffend, ist folgendes: Lulu, Lolita [...]
Dieses Buch kenne ich. Es ist recht populär gehalten aber doch auch informativ und nett zu lesen.
[
Lavizzari, Alexandra: Lulu, Lolita und Alice. Das Leben berühmter Kindsmusen. Berlin 2005 ]
Hier ist weitere einschlägige Literatur:
Cohen, Morton N.: Lewis Carroll. A Biography. New York 1995
Gardner, Martin: The Annotated Alice. Harmondsworth 1970
Higonnet, Anne: Pictures of Innocence. The History and Crisis of Ideal Childhood. London 1998
Kleinspehn, Thomas: Lewis Carroll (Rowohlts Monographien 50478). Reinbek bei Hamburg 1997
Robson, Catherine: Men in Wonderland. The lost Girlhood of the Victorian Gentleman. Princeton N.J. 2001
Taylor, Roger und Wakeling, Edward: Lewis Carroll. Photographer. Princeton N.J. u.a. 2002