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Bruno
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Lewis Carroll / Michael Ende: Die Jagd nach dem Schlarg

Beitrag von Bruno »

Lewis Carroll / Michael Ende: Die Jagd nach dem Schlarg

Ein unbekanntes GL-Buch?

Lewis Carrolls großes "Nonsense"-Gedicht "The Hunting of the Snark" (1876) hat zwar bei weitem nicht den Bekanntheitsgrad von "Alice im Wunderland" erreicht, wird aber dennoch bis heute immer wieder neu aufgelegt und auch übersetzt: Eine äußerst schräge Schiffsmannschaft, bestehend aus einem Büttel (dem Mannschaftskapitän), sowie u.a. einem Bäcker, einem Metzger, einem Anwalt, einem Bankier und einem Biber, befindet sich auf einer Expedition, deren Ziel es ist, das "Snark" zu jagen und zu finden. Die Tatsache, dass keiner von der Mannschaft so genau sagen kann, was ein "Snark" eigentlich überhaupt ist, tut dem Jagdeifer keinerlei Abbruch. Bedrohlich allerdings, dass - wie man aus den Abschiedsworten des weisen Onkels vom Bäcker erfährt - manches "Snark" sich als "Boojum" entpuppen kann, welches bewirkt, dass sein Finder sich sang- und klanglos in Luft auflöst. Natürlich ist es der Bäcker, der sich am meisten davor fürchtet, dem genau dieses zuletzt passiert.
Der deutsche Autor Michael Ende (bekannt v.a. durch "Momo" und "Die Unendliche Geschichte") hat 1988 Carrolls Gedicht aufgegriffen, unter dem Titel "Die Jagd nach dem Schlarg" ins Deutsche übertragen und zu einem Theaterstück umgeschrieben: Michael Ende interpretiert dabei das Gedicht als Produkt eines inneren Kampfes zwischen zwei Komponenten einer Person: Dem erfolgsverwöhnten Kinderbuchautor Lewis Carroll und dem schüchternen Mathematikdozenten Charles Dodgson, Carrolls bürgerlicher Existenz. Diese beiden Figuren treten im Prolog persönlich als mit einem Ziehharmonikabalg verbundene siamesische Zwillinge auf, Dodgson will die Aufführung platzen lassen, Carroll will sie unbedingt durchbringen. Im Stück selbst wird Carroll / Dodgson durch den Bäcker repräsentiert. Im Eifer der Schlarg-Jagd zerlegt die Mannschaft das auf einer einsamen Insel gekenterte Schiff, so dass dieses zuletzt gemeinsam mit der gesamten Mannschaft - außer dem durch das "Boojum" (Buhmalm) verdufteten Bäcker - untergeht. Im letzten Moment kommen drei kleine Mädchen im Ruderboot angerudert, schneiden mit einer riesengroßen Schere die Zwillinge Carroll und Dodgson auseinander. Carroll klettert zu den Mädchen ins Boot, das langsam davongleitet, während Dodgson in den Fluten ertrinken muss.
Ich liefere hier eine Kostprobe aus dem Stück in Form einer stark zusammengeschnittenen, leicht modifizierten Kurzfassung:

Prolog: Ein Schiff auf hoher See, sachte in den Wellen schaukelnd. Die Mannschaft ist auf Deck aufgebaut zur Ovation, der Büttel (der Mannschaftskapitän) steht auf der Kommandobrücke. Die siamesischen Zwillinge Carroll und Dodgson treten auf. Carroll zerrt Dodgson mit sich, der partout nicht auftreten will, sich am Bühnenvorhang festhält und immer wieder hinausstrebt. [...]

MR DODGSON Hören Sie, Carroll, ich habe meine Geschichten für Kinder erzählt, nur ganz privat und nur für ein paar Kinder.
MR CARROLL Sie meinen natürlich, für alle Kinder.
MR DODGSON Jawohl, Sir. (verschämt) Außer für Knaben.
MR CARROLL Gut! Weiter! Fahren Sie fort, Dodgson! Wir leben im Zeitalter der Indiskretion. Solche fatalen Bekenntnisse interessieren alle.
MR DODGSON Was soll das heißen? Ich verbitte mir jede Insinuation! Ich untersage diese ganze Aufführung hier. [...]
MR CARROLL Was erlauben Sie sich? Hier geht es nicht mehr um Ihre lächerlichen Privatangelegenheiten, Dodgson, hier geht es um ein kulturelles Ereignis! Sie sind ganz einfach ein feiger kleiner Heuchler! [...]
MR DODGSON (zum Publikum) Es handelt sich bei diesem überaus lästigen 'alter ego' um einen angeblichen Mr. Lewis Carroll, Bestsellerautor und Publikumsliebling. Dieser feine Gentleman hat mir alles geraubt, was mir lieb und teuer war. Er hat meine geheimsten Sehnsüchte und einsamsten Leiden ausspioniert und daraus Literatur gemacht!
MR CARROLL Und das mit Erfolg, wie Sie zugeben müssen.
MR DODGSON Ich will aber keinen Erfolg! Ich will überhaupt nicht veröffentlichen. Meine Träume gehen niemanden etwas an - außer mich und meine kleinen Freundinnen. Kinder verstehen, ohne zu verstehen. Sie sind weise.
MR CARROLL Dieser Mr. Dodgson ist nur meine bürgerliche Identität, die mir wie ein Klotz am Bein hängt. Sehen Sie ihn sich nur an: Das Musterbild eines viktorianischen Bürgers, ewiger Junggeselle, Pendant und Gewohnheitsmensch, von Beruf Mathematiklehrer, gesetzestreu und durchaus moralisch, ja nahezu bigott - aber alles in allem ist er nichts als eine arme Seele in einem höchst persönlichen Fegefeuer. Ich dagegen liebe die Objektivität. Darum hasst er mich, denn die kleinen Mädchen lieben nicht ihn, sie haben ihn nie zu sehen bekommen, die kleinen Mädchen lieben in Wirklichkeit nur mich, Lewis Carroll, und mit Recht.
MR DODGSON Wie wagen Sie es, von Wirklichkeit zu sprechen! Sie existieren überhaupt nicht und haben niemals existiert. Sie sind nichts als eine Erfindung meiner müßigen Phantasie, eine unter Tausenden! [...]

Der Prolog geht dann in das eigentliche Stück über, in dem der Bäcker schließlich seine Geschichte erzählt:

DER BÄCKER So hört das Lied vom elternlosen Sohne:
Gezeugt ward ich allein von Mutterhand.
Mein Vater Marzipan zog die Melone -
Sein Zwitter - ich - hab beide nie gekannt ...
DER BÜTTEL (läutet) Dies ist keine Oper von Wagner doch jetzt!
Überspring's, da die Zeit uns schon hetzt.
DER BÄCKER Vierz'g Jahr überspring ich und fahre gleich fort
mit dem Tag, da ich kam hier an Bord:
Mein herzliebster Onkel, der krank war und gichtig,
verriet mir beim Abschied zum Trost...
DER BÜTTEL Überspring auch den Onkel!
DER BÄCKER Der Onkel ist wichtig,
auch wenn es dich noch so erbost!
DER ONKEL (kommt als grüne Geistererscheinung in seinem Sarg über die Wellen dahergepaddelt) Solltest du wirklich ein Schlarg einmal finden,
bring's jedenfalls heim! Gib ihm Haferkornschleim!
Denn es dient dir, um Licht zu entzünden.
Jage das Schlarg deshalb mit kleinen Terzen,
mit Gabel und Hoffnung, mit Seife und Scherzen!
Jage das Schlarg!
Jag' es mit Güte und mit Fingerhüten!
Bedrohe das Schlarg auch mit Koloraturen,
mit Zwölfachteltakten, sowie Kuckucksuhren!
Jage das Schlarg! Bedrohe das Schlarg!
Und lock es mit Lächeln in Tüten! [...]
Aber Neffe, o weh! Denn ergibt es sich je,
dass dein Schlarg sich als Buhmalm erweist,
bist du binnen Sekunden und lautlos verschwunden,
und nichts bleibt, was dein Dasein beweist.
DER BÄCKER Es ist dies, es ist dies! Es zerbricht mir den Kopf,
dies vom Onkel erwähnte Verhängnis!
Und mein Herz ist nicht mehr als ein brodelnder Topf,
welcher überläuft, schäumend vor Bängnis. [...]
Denn ich weiß nun eben: Käm' jemals im Leben
ein Buhmalm mir einst zu Gesicht,
wär' ich binnen Sekunden und lautlos verschwunden!
Dies' Wissen ertrage ich nicht!
DIE MANNSCHAFT Oh, keiner der Herrn hätt' es sonderlich gern,
wenn er plötzlich sich vollständig fehlt.
Darum sage uns, Mann, als die Reise begann,
warum hast du da nichts erzählt?
DER BÄCKER Verklagt mich auf Totschlag, auf Schizophrenie,
denn jedermann hat seine Schwächen,
doch Vorspieglung unwahrer Tatsachen nie!
Die gehört nicht zu meinem Verbrechen.
Ich sprach auf hebräisch, auf griechisch, sogar
Suaheli, Sanskrit und Latein,
doch leider vergaß ich, verwirrt wie ich war:
Ihr versteht ja doch deutsch nur allein. [...]

Des Bäckers Verhängnis tut dem Eifer der Mannschaft bei der Schlarg-Jagd keinen Abbruch und in der letzten Szene - nach so manchen Zwischenfällen - scheint sich Erfolg einzustellen:

DER BÜTTEL Da jodelt doch wer! Der Bäcker, der Tropf!
Sein Geschrei geht durch Bein mir und Mark!
Seht, er winkt mit der Hand und er nickt mit dem Kopf!
Ohne Zweifel, er fand es, das Schlarg!
DER BÄCKER (verschwindet mit einem blendenden Blitz, nur seine Stimme ist noch zu hören) Ja, das Schlarg ist ein Schlarg! (orgiastisches Gelächter des Bäckers in der Ferne verhallend) ist ein Buuuuuuuuh... (Stille)
DER BÜTTEL Es klang fast wie ...malm! [...]
Alle beginnen fieberhaft nach dem Bäcker zu suchen, dabei nehmen sie die letzten Reste des Schiffes ganz auseinander. Das Wasser steigt zugleich immer höher.
DIE MANNSCHAFT Wir suchen und suchen, doch können nicht finden
'nen Knopf, sei's geschlossen, sei's offen,
woraus wir ersehn, dass am Orte wir stehn,
wo das Schlarg auf den Bäcker getroffen.
Inmitten des Worts, dessen Sinn er gefunden,
am Gipfel von Glück und Gefahr,
ist er binnen Sekunden und lautlos verschwunden,
so wie sein Schicksal es war.

MR DODGSON (dessen Verstand inzwischen nachgegeben hat, fragt wie ein Kind) Hat der Bäcker das Schlarg denn nun wirklich gefunden?
MR CARROLL Er fand, was er hoffte und fürchtete, seh'n Sie?
MR DODGSON Nur, wieso ist er plötzlich so völlig verschwunden?
MR CARROLL Das Schlarg, das war eben ein Buhmalm, versteh'n Sie?

Das Wasser steigt allen über den Kopf. In einem Boot kommen die drei kleinen Mädchen angerudert. Sie steigen auf das Schiff und trennen Mr.Dodgson und Mr.Carroll mit einer riesengroßen Schere auseinander. Die Mädchen holen Carroll zu sich ins Boot, das langsam davongleitet. Dodgson bleibt mit einer hilflosen Geste auf dem sinkenden Schiff zurück.
Ende.

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Was das "Snark" (Schlarg) betrifft, so hat Lewis Carroll selbst dazu 1876 an eine seiner kleinen Freundinnen geschrieben:

Meine liebe Birdie,
Wenn Du das Schlarg gelesen hast, wirst Du mir hoffentlich ein Briefchen schreiben und mir sagen, wie es Dir gefällt und ob Du es ganz verstehst. Manche Kinder finden es rätselhaft. Du weißt natürlich, was ein Schlarg ist? Wenn Du's weißt, bitte sag's mir: Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer, was das ist. [...]


Die Interpretation Michael Endes, der die Schlarg-Jagd als aktives Gegenstück zu S. Becketts "Warten auf Godot" sieht, ist hier schon etwas aufschlussreicher. ("Die Menschen haben einen unseligen Tätigkeitsdrang, zu dessen Rechtfertigung ihnen schlechterdings kein Grund zu unglaubwürdig ist.") Aber vielleicht geschieht das Entscheidende ganz zum Schluss, als Carroll durch die drei kleinen Mädchen im Ruderboot - vielleicht sind es Alice, Lorina und Edith, so wie damals, als "Alice im Wunderland" das erste Mal erzählt wurde - vor dem allgemeinen Untergang gerettet wird.

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Michael Endes deutsche Nachdichtung (Carrolls englischem Originalwerk gegenübergestellt), die mit einem Nachwort des Verfassers versehen ist, sowie das daraus entstandene Theaterstück befinden sich in:

Ende, Michael: Die Jagd nach dem Schlarg. Variationen zu Lewis Carrolls gleichnamigen Nonsensgedicht. Stuttgart und Wien 1988.

Wer sich ausschließlich für Carrolls Werk interessiert, dem sei die englisch-deutsche Reclam-Ausgabe nahegelegt:

Carroll, Lewis: The Hunting of the Snark. Die Jagd nach dem Schnatz. Übersetzung und Nachwort von Oliver Sturm (Reclams Universal-Bibliothek 9433). Stuttgart 1996.
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Bruno
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Re: Lewis Carroll / Michael Ende: Die Jagd nach dem Schlarg

Beitrag von Bruno »

Heute zum Alice Day MUSS ich diesen Thread einfach pushen.

Kann es denn sein, dass tatsächlich niemand dieses geniale Werk Lewis Carrolls kennt bzw. dazu etwas sagen möchte?
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