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Liebesfluchten
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Die Feindin* (*The Fiend*) von Margaret Millar (1964)

Beitrag von Liebesfluchten »

Die Handlung dreht sich um Charlie Gowen, einen scheinbar harmlosen, aber sozial unbeholfenen Mann, der ein zwanghaftes Interesse an kleinen Mädchen hegt – ohne jedoch gewalttätig zu sein. Als ein neunjähriges Mädchen in seiner Nachbarschaft verschwindet, gerät er sofort unter Verdacht, obwohl keine Beweise gegen ihn vorliegen.

Millar zeichnet ein beunruhigendes Porträt von Charlie, seiner Isolation und der hysterischen Reaktion der Gemeinschaft, die in ihm einen Sündenbock sieht. Dabei wird die Frage aufgeworfen, wer eigentlich der wahre „Unhold“ ist: der seltsame Einzelgänger oder die selbstgerechte Gesellschaft, die vorschnell urteilt.

Das Buch ist weniger ein klassischer Krimi als vielmehr eine düstere Charakterstudie über Schuld, Vorurteile und die Abgründe der menschlichen Psyche.
Wie endet das Buch? (Achtung: Spoiler!)
Der psychologisch dichte Thriller gipfelt in einer beklemmenden und ambivalenten Auflösung:

Jessie Kern, das vermisste Mädchen, taucht unversehrt wieder auf – sie war einfach weggelaufen, ohne dass Charlie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte.
- Trotzdem eskaliert die Lynchstimmung in der Nachbarschaft gegen Charlie, der als „perverser Sündenbock“ gebrandmarkt wird. Selbst seine wenigen Verteidiger (wie die pragmatische Nachbarin Kate) können die Welle der Anschuldigungen nicht stoppen.
- In einer Schlüsselszene wird Charlie von einer aufgebrachten Menge verfolgt und stirbt **durch einen tragischen Unfall**: Er stürzt in eine Baugrube, während die Nachbarn ihn jagen. Sein Tod wirkt wie eine indirekte Hinrichtung – die Gesellschaft „reinigt“ sich selbst von ihrem Außenseiter, obwohl er unschuldig war.
- Das Ende bleibt bitter: Die wahren „Feinde“ sind nicht Einzeltäter wie Charlie, sondern die kollektive Hysterie und der moralische Selbstbetrug der Gemeinschaft. Millar hinterfragt, wer hier eigentlich das Monster ist.
Warum lief Jessie weg?
- Jessie ist ein unabhängiges, etwas trotziges Mädchen, das unter der strengen Kontrolle ihrer Mutter **Mrs. Kern** leidet. Die Ehe der Kerns ist angespannt, und die Atmosphäre zu Hause ist bedrückend.
- Kurz vor ihrem Verschwinden hatte Jessie einen **Konflikt mit ihrer Mutter**, weil sie sich weigerte, ein hässliches Kleid anzuziehen. Ihr Verschwinden ist vor allem ein **protesthafter Ausbruch** – sie versteckt sich absichtlich, um ihre Familie zu bestrafen.
- Später stellt sich heraus, dass sie sich bei einer **freundlichen älteren Frau** versteckt hat, die sie zufällig kannte. Es gab also weder ein Verbrechen noch eine Entführung – nur einen kindlichen Racheakt.
Wie geriet Charlie unter Verdacht?
Charlie steht von Anfang an unter Beobachtung, weil er **sozial auffällig** ist:
- **Sein Verhalten**: Er beobachtet Kinder (insbesondere Mädchen) oft aus der Ferne, ohne jedoch Gewalt auszuüben. Seine fixierten Interessen wirken unheimlich, obwohl er selbst seine Impulse kontrolliert.
- **Vergangenheit**: Es kursieren Gerüchte über eine frühere Anschuldigung (die nie bewiesen wurde), was die Nachbarn voreingenommen macht.
- **Der Zufall**: Am Tag von Jessies Verschwinden wurde Charlie gesehen, wie er in der Nähe des Schulwegs spazierte. Sein ungeschickter Versuch, der Polizei zu „helfen“, macht ihn nur verdächtiger.
- **Die Dynamik der Nachbarschaft**: Millar zeigt, wie Vorurteile und Gruppendenken die Menschen blind machen. Sobald der Verdacht einmal im Raum steht, wird jede harmlose Geste Charlies (z. B. sein Interesse an Puppen) als „Beweis“ umgedeutet.
Ironie der Geschichte:
Der eigentliche Skandal ist nicht Charlies Verhalten, sondern die **Hysterie der „anständigen“ Gesellschaft**. Jessie kehrt unversehrt zurück – doch die Nachbarn *wollen* ihren Sündenbock nicht loslassen. Charlies tragischer Tod (durch den Mob indirekt verursacht) entlarvt die wahre Boshaftigkeit: nicht in ihm, sondern in denen, die sich für moralisch überlegen halten.
"We have, according to the needs of history and our own whim, made children savages and sinners, but we have also maintained their innocence, a quality we seem to need much more than they do." (James Kincaid)
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Re: Die Feindin* (*The Fiend*) von Margaret Millar (1964)

Beitrag von Verehrer »

heb ich mir auf für trübe Herbsttage.
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Leni
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Re: Die Feindin* (*The Fiend*) von Margaret Millar (1964)

Beitrag von Leni »

Du lieber Himmel!!!

Nach den ersten Zeilen musste ich an den uralten Film "Eine Stadt sucht einen Mörder" denken.

Und denkt dran: Er hat auch was von dem Film "Es geschah am helllichten Tag", wo der Obdachlose sofort unter Verdacht gerät und sich umbringt.

Wir Menschen sind wirklich ....... :evil:
Du allein warst mein Beschützer, Inhalt meines Lebens.
Du warst mir ein Freund und Vater. Ich liebe dich.
:herz:
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