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Nabokov
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Pedal

Beitrag von Nabokov »

Ein ins Deutsche übersetzter Auszug aus dem unten besprochenen Roman findet sich hier:

http://www.girlloverforum.net/forum/vie ... =7&t=15438



Pedal

Seinen Titel hat dieser Roman der jungen Chelsea Rooney der Tätigkeit zu verdanken, der seine Protagonisten über grosse Strecken obliegen: dem „Pedalen“. Das Buch handelt vordergründig von einer Radtour durch Kanada. Die Silbe „Ped“ könnte aber auch auf Pedophilia verweisen, die diesen Debut-Roman thematisch durchzieht. Als Grund für ihre ziemlich innovative Themenwahl gibt die Autorin unverfroren an, dass es sich bei den Pädophilen um „eine der letzten Gruppen handelt, die wir offen hassen dürfen.“ Das dürfte jedoch mehr ironisch als grimmig gemeint sein.

Als Ich-Erzählerin dient eine 25jährige Psychologie-Studentin, die sich in wissenschaftlichen Interviews mit einer Gruppe von Frauen befasst, die in ihrer Kindheit Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gemacht, aber kein psychisches Trauma davon getragen haben. Diese Frauen weigern sich darum, ihre Erfahrungen dem Opfer/Ueberlebenden-Modell unterzuordnen – das ist das Thema von Julias Masterarbeit. Am Anfang des Buches erzählt eine der Frauen von einem Therapeuten, der sie überzeugen wollte, dass ihre Depression durch ihre jahrelange Belästigung verursacht sei, und nicht etwa durch den kürzlichen Tod ihrer Schwester. Worauf diese Frau ihrem Therapeuten den berühmten „fuck yourself“ Rat erteilt habe. Julia fragt sich, ob Trauma und Scham nicht von der Gesellschaft her rühren – und speziell von den Doktoren –, und nicht von der Erfahrung selber. Die Hartnäckigkeit, mit der sie diese Hypothese verfolgt, jagt ihren Mentor in die Flucht, der sie anfänglich verständnisvoll betreut hat.

Julia hält sich aus persönlichen Gründen für eine Expertin auf diesem Feld, ist doch ihr eigener Vater, von ihr 'dirtbag' genannt, einfach verschwunden, als sie acht war, und hat dabei nur ein Testament von Sucht und Violenz hinterlassen. Ihn zu suchen bricht sie nun eines Tages mit dem Fahrrad aus Vancouver auf, mit einem Begleiter, der sich zufällig einstellt. Es ist Smirks, den sie bei ihrer besten Freundin kennen gelernt hat, den sie von Anfang an gut mag, und der dank einiger Jahre Altersvorsprung auch reifer wirkt. Auch dank einer gewissen Tragik, wie sich kurz vor Beginn der Radtour herausstellt. Die Ich-Erzählerin begegnet ihm nämlich vorher zu ihrer Ueberraschung ein zweites Mal, ausgerechnet am Alice Day, an einem Meeting von MAA (“Minor Attracted Adults”), in das sich Julia eingeschmuggelt hat, um ihr Wissen über Pädophile etwas abzurunden. Davon besitzt sie schon einiges, zitiert sie doch Frits Bernard und andere. In einer Buchbesprechung heisst es denn auch: „Der Leser wird in eine geheime Welt von das Gesetz achtenden Pädophilen hinein gezogen, deren Teilnehmer ihr Interesse nicht öffentlich enthüllen und Unterstützung suchen können, wenn sie ihr soziales und berufliches Leben aufrecht erhalten wollen.“

Julia unterscheidet zwischen „Pädophilen“, das sind solche, die sich zu Kindern nur hingezogen fühlen, und „Molestern“, welche ihr Verlangen ausagieren. Smirks gehört zur ersteren Sorte, und das wird sich nach Ende des Treffens verdeutlichen. Sie verbringen den Rest des Nachmittags am Naturistenstrand, wo alsbald die Hilfe Smirks an einem 9jährigen Mädchen gefordert ist. Er leistet seinen Beistand tadellos, nackt an nackt mit der Kleinen, um nachher über dem Steuerrad seines Autos verzweifelt zusammenzusinken. Diese Szene ist für mich mit ihrer präzisen Beschreibung die beste des Buches überhaupt. Und präzise scheint damit auch die Figur des Pädophilen umrissen, womit die Geschehnisse anfangen können, ihren Lauf zu nehmen.

Das tun sie denn auch, jedenfalls pedalistisch gesehen. Zunächst will ein steiler Pass überwunden werden, dann geht's ins flache Land hinunter. Leider verflacht sich da auch die Erzählung. Im Tonfall zwar optimistisch durchgehalten, erschöpft sie sich alsbald in Landschaftsschilderungen, Spannungen zwischen ihr und Smirks, und Beschreibungen der körperlichen Strapazen, die man ja gerne glaubt. Nur hat man das Buch kaum deswegen in die Hände genommen. Und so wie die beiden Biker durchhalten müssen, muss das auch der Leser. An den Abenden gibt es Lagerfeuergespräche an den Ufern kanadischer Waldseen, bei denen Smirks aus seinen Gedichten vorträgt.

Abwechslung kommt erst in die monoton werdende Geschichte, als Smirks eines Morgens spurenlos verschwunden ist. Dahinter könnte ja vieles stecken. Man macht sich auf geschändete Mädchenleichen gefasst, oder auf eine aus dem Unterholz auftauchende Polizeistreife. Julia beschliesst jedoch vorerst, weiter dem Ziel ihrer Reise nachzugehen, und das heisst, die Spur ihres Vaters aufzunehmen. Das allerdings gelingt ihr nie so recht. Der Typ scheint ein unstetes Leben zu führen, seine Zeichen verlieren sich in unbedeutenden Provinzstädtchen. Man fragt sich als Leser allmählich, wozu der Einfall dieser mühsamen Suche nach einem verhassten Vater gut sein sollte. Jedenfalls scheint auch Julia selber die Motivation zu verlieren, entscheidet sie sich doch plötzlich, zu ihrer Freundin zu strampeln, die mittlerweile an einer Tagung in Toronto zu tun hat.

Die Ahnung trügt sie nicht. Bei ihrer Freundin findet sie Smirks, der nachts überstürzt und voller Freude zu ihr aufgebrochen war. Sie hatte ihn per SMS wissen lassen, dass sie schwanger ist, von ihm. Der pädophile Leser mag diese Wende wenig originell finden, gewöhnlichen Lesern könnte sie ja kreativ erscheinen, oder auch unglaubhaft. Denn Otto Normalleser dürfte sich unter Pädophilen nicht unbedingt die Sorte Männer vorstellen, die mit erwachsenen Frauen spontan Kinder zeugen. Dafür könnte er dann aber den Gemeinplatz nur zu gut nachvollziehen, den man nun kommen sieht. Die Freundin teilt nämlich dem angehenden Kindesvater mit, dass sie das Kind abtreiben will. Richtig – weil es ein Mädchen ist, und weil Smirks ja... Nein, nicht weil sie verbotene Verstrickungen zwischen ihm und seiner heranwachsenden Tochter fürchtet. Eben diesen Gemeinplatz erspart uns die Autorin. Sie lässt die Freundin weiter denken: als Pädophiler interessiert er sich ja, wie sie zu wissen glaubt, nur bis zum vierzehnten Lebensjahr für Kinder. Das aber sei keine Liebe, knallt sie Smirks ins Gesicht.

Darauf kündet Julia ihre Freundschaft mit ihr und macht sich auf die Suche nach dem erneut verschwundenen Smirks. Den sie jetzt an einem seelischen Tiefpunkt ganz anderer Grössenklasse antrifft, als es nach jener Strandszene der Fall war. Dass er damals kurz am verzweifeln war, weil er wusste, dass er nie ein solches Mädchen würde „haben“ können, das wirkt rückblickend wie eine Vorahnung von dem Tiefpunkt jetzt. Der viel endgültiger ist, vernichtend. Vernichtet ist Smirks, vernichtet ist das beginnende Leben seines wirklichen Kindes, das er schon fast zu „haben“ begann. Und das alles nur, weil er pädophil ist – wohlverstanden: „ist“. Es geht hier nämlich nur um sein So-Sein, keineswegs um irgendwelche Taten, nicht einmal um Neigungen zu solchen. Nie hat jemand solche Befürchtungen angedeutet. Nein, er scheint einfach kein Anrecht auf (s)ein Kind zu haben, und das nicht nur sexuell nicht, sondern auch als Vater nicht, wie jeder andere Mann es hätte. Und das entschied die Frau, mit der er trotz Pädophilie eine gute Freundschaft geführt und die den Sex mit ihm gewollt und bekommen hatte. Dabei konnten wir ihn durch die ganze Geschichte hindurch als zuverlässigen und gut gemochten Mann verfolgen, den man sich problemlos als Vater hätte vorstellen können.

Julia aber strampelt dann wieder alleine weiter, nach Kingston, auf der Suche nach ihrem Vater. Dort steigt sie bei einem älteren Ehepaar ab, dem sie beiläufig von ihrer wissenschaftlichen Arbeit erzählt. Nun muss wohl der Zufall kräftig nachhelfen: das Paar hatte schon mal mit einem Pädophilen zu tun gehabt, einem völlig abgebrannten Typen, Vater zweier Töchter, mit denen er keinerlei Kontakt mehr hatte, nachdem er mit ihnen zu weit gegangen war. Eines Tages hängt der Mann an einer Heizungsröhre von der Decke, neben ihm sein geliebtes Tagebuch, mit Gedichten an seine Kinder. Der Leser ahnt es: es ist Julia Vater. Er hoffe, wenigstens das in seinem Leben gut gemacht zu haben, steht im Tagebuch (womit er die Gedichte meint). „Aber du, du bist wohlauf“, sagt die ältere Frau zu Julia. Es klingt eher verzweifelt, könnte aber vielleicht auch als Bestätigung von Julias Arbeitshypothese gelten, dass man auch sexuelle Kindheitserfahrungen schadlos überstehen kann. Wir wissen es nicht. Julia fährt dann zu ihrer Schwester. Unterwegs fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, die beiden Leute danach zu fragen, wo 'dirtbag' begraben liegt.


* * *

Ich bin bei annabelleigh über das Buch gestolpert, und habe dann in Besprechungen Andeutungen vom Inhalt gefunden, die mich neugierig machten. Es waren vor allem diese frechen Sätze am Anfang des Buches, welche einen frischen Zugang zum Thema versprachen. Aber ganz so munter wie am Anfang ging's dann doch nicht weiter. Frisch, sprachlich sehr gekonnt für eine Debütantin, ist die Erzählweise. Die trägt einen ein Stück weit, und hat auch der Autorin grosse Erwartungen für ein nächstes Werk eingetragen. Sicher handelt es sich nicht um einen Pädophilen-Roman, jedenfalls nicht aus der Sicht eines Betroffenen. Dazu werden beide Pädos zu sehr von „aussen“, aus etwas ratlos wirkender Distanz, entwickelt. Am ehesten nimmt noch Smirks Kontur an, der „gute“ Pädophile. Den anderen, immerhin der Vater der Ich-Erzählerin, fasst sie so an, wie man einen Drecksack eben anfasst – am liebsten gar nicht. Das mag verständlich sein, genügt aber für einen Roman nicht.

Auf ihrer persönlichen Webseite soll Chelsea Rooney erklärt haben: „Ich wollte einfach ein Buch schreiben, das lustig ist und auch Pädophile drin hat, wie das ja auch im Leben so ist.“ Nun ja, lustig war's nicht, aber Pädophile hat's drin. Von einer der zwei Figuren sogar einen ganz anständigen Entwurf. Womit sie vielleicht zeigt, dass man Romane mit Pädos drin doch machen kann – aber ungewollt auch, dass es nicht so leicht fallen dürfte. Immerhin: Ein bisschen Normalisierung ist das schon.

Auf annabelleigh hat einer noch eine Besprechung angekündigt. Auch soll eine im Blog von Tom O'Carrolls kommen (der ebenfalls im Roman Erwähnung findet).

Pedal
By Chelsea Rooney
Caitlin Press
240 pages, $21.95
978-1-927575-56-7 / 1-927575-56-7

http://coastalspectator.ca/?p=3887

http://caitlin-press.com/our-books/pedal/

http://www.vancouversun.com/entertainme ... story.html

http://www.lpg.ca/First/Pedal
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kafka
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Re: Pedal

Beitrag von kafka »

Sehr interessant!

Ich traue mich aber nicht, bis zum Ende zu lesen, da ich fürchte, dass Du spoilerst? Tust Du das?
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Nabokov
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Re: Pedal

Beitrag von Nabokov »

"spoilern" Was ist das ?
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Mitleser
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Re: Pedal

Beitrag von Mitleser »

Den Inhalt verraten, was andere ggf. verärgern könnte, wenn sie sich die Überraschung nicht verderben wollen. (to spoil = verderben)
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Nabokov
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Re: Pedal

Beitrag von Nabokov »

Den Ausdruck 'spoiler' kenn ich aus anderem Zusammenhang, mit etwas anderer Bedeutung. :)

Die Frage Kafkas war dann wohl eher ironisch gemeint.

Im Ernst: Ich verrate eigentlich den ganzen Hergang bis zum Schluss. Da ich davon ausging, dass kaum jemand an eigener Lektüre interessiert sein dürfte, und ich das Buch eigentlich auch niemandem wirklich empfehlen könnte (zumal es noch in Englisch ist, was wohl für den einen oder anderen erhöhten Aufwand beinhaltet). Meine Inhaltszusammenfassung kann dann stellvertretend für eigenes Lesen genommen werden. Falls das jemand etwas "vorwegnehmend" findet - es handelt sich ja nicht um einen Krimi.
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Horizonzero
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Re: Pedal

Beitrag von Horizonzero »

Nach einer Spoiler Warnung kann jeder für sich selber entscheiden ob er lieber zb. das Buch lesen möchte, oder Deine Zusammenfassung. Ich denke in dem Sinne hatte es Kafka auch gemeint. :)
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Nabokov
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Re: Pedal

Beitrag von Nabokov »

Ja nun, ich dachte, dass das einer auch sonst entscheiden kann, ohne Warnungen meinerseits.
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kafka
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Re: Pedal

Beitrag von kafka »

Nabokov hat geschrieben:Meine Inhaltszusammenfassung kann dann stellvertretend für eigenes Lesen genommen werden.
Mh, das ist aber eine seltsame Sichtweise, finde ich. Ein Roman ist doch kein Wetterbericht, den man einfach so zusammenfassen kann, ohne ihm den eigentlichen Charakter zu rauben. :?

Sei es drum, die Neugier hat obsiegt und ich habe auch den Spoiler gelesen. Bestellen will ich mir das Buch trotzdem noch. Danke für den Hinweis also. :)
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Nabokov
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Oh Gott

Beitrag von Nabokov »

habe ich dem Roman den Charakter geraubt? Und dann erst noch den eigentlichen Charakter? Dann ist er jetzt sowas wie eine leere Hülle? Aber so ganz scheinst du das doch nicht zu befürchten. Sonst möchtest du ihn jetzt nicht selber bestellen.

Ich wusste nicht, dass das alles so heikel ist. Und ich meinte auch, selber schon Zusammenfassungen von Romanen gelesen zu haben. Nie aber von Wetterberichten.

Scheint ein anspruchsvolles Forum zu sein hier.
Danke für den Hinweis also.
Bitte, gern geschehen. Freut mich, wenn ich doch jemanden interessieren konnte.
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kafka
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Re: Pedal

Beitrag von kafka »

Zwei Monate Ausharren lagen zwischen Online-Bestellung und Ankunft des Buches in meinem Briefkasten. Hat sich aber gelohnt! Ich bin ziemlich hingerissen von dem Buch und kann die Bestellung anderen nur ans Herz legen. Es sei aber gewarnt: Sprachlich ist der Text eher "Lolita" als "Catcher in the Rye". Bei geringer Übung im Englischen wird man also unerträglich oft im Wörterbuch nachschlagen müssen.
Gelöscht_10
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Re: Pedal

Beitrag von Gelöscht_10 »

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